Liebe Leserinnen und Leser,
das vorliegende Heft behandelt die Besiedlungsgeschichte des südlichen Ostseeraums und der angrenzenden Landschaften während der Völkerwanderungszeit. Im Norden Deutschlands ist damit die Zeit zwischen dem späten 4. und dem 8. Jh., also vom Ende der Spätantike bis zum Beginn der Karolinger- bzw. der Wikinger- und Slawenzeit gemeint. Pollenanalytische Untersuchungen an Seesedimenten und Moorstratigrafien haben seit den 1970er-Jahren aufgezeigt, dass es in diesem Raum während des 6. und 7. Jh, zu einer deutlichen Reduktion oder gar vollständigen Auflassung landwirtschaftlich genutzter Flächen und zugleich zu einer großflächigen Wiederbewaldung kam. Parallel ist seit dem späten 4. Jh. ein Abbruch der Belegung auf teils jahrhundertlang genutzten Gräberfeldern und die Aufgabe nahezu aller Siedlungen festzustellen. Ist es vorstellbar, dass seit Jahrtausenden besiedelte Landschaften teilweise oder sogar vollständig verlassen wurden? Sehen wir hierin die Spuren der historisch bezeugten Migrationen der Angeln und Sachsen, Langobarden und Goten? Gegen diese These werden traditionell vor allem einzelne, in das 6. bzw. 7. Jh. datierende und als Fremdgüter zu betrachtende Objekte ins Feld geführt, die meist ohne Kontext und häufig in der Nähe von Flussläufen gefunden wurden. War aus dem zuvor besiedelten Land nun also ein dünn besiedelter Raum geworden, der zwar regelmäßig auf dem Weg von Skandinavien nach Mitteleuropa durchquert wurde und in dem die Restbevölkerung Ackerbau und Viehzucht weitgehend zugunsten von Jagd und Fischfang aufgegeben hatte?
Die Klärung dieser Fragen schien lange Zeit aufgrund der wenigen Quellen nicht möglich. Wie die Beiträge in diesem Heft zeigen, hat sich dies glücklicherweise geändert; insbesondere die inzwischen weitgehend etablierte Praxis, im Vorfeld von Bauvorhaben Ausgrabungen durchzuführen, hat dazu betragen. Dabei ist es gelungen, völkerwanderungszeitliche Gräber, Horte, Opferplätze und Siedlungen zu entdecken, die ein neues Licht auf diese Zeit werfen.
Einen großen Anteil an der Vermehrung der Quellen hat die Kooperation der Denkmalbehörden mit ehrenamtlich tätigen Sondengängern, die zur Bergung zahlreicher kulturhistorisch bedeutender Objekte geführt hat. Auch wenn diesen Funden in der Regel der archäologische Kontext fehlt, ermöglicht ihre stilistische und typologische Einordnung doch die Gewinnung neuer Informationen zu den während der Völkerwanderungszeit in Norddeutschland bestehenden kulturellen Kontakten. Ein Anfang ist also gemacht; nun gilt es, das neue Material detailliert zu studieren und neue Antworten auf die umrissenen Fragen zu finden.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen!
Ihr Hauke Jöns, Leitender wissenschaftlicher Direktor am Niedersächsischen Institut für historische Küstenforschung in Wilhelmshaven