Wikingerzeit als SehnsuchtsortRetrotopia – Flucht in die Vergangenheit

Wikinger begegnen uns in Film und Fernsehen, in Comics und Romanen, nicht zuletzt in der Werbung. Was macht ihre Faszination aus? Ist es nur Fiktion, oder beruht unser Wikingerbild auch auf Fakten? Eine Analyse der Bedeutung von Wikingern und Wikingerzeit für die moderne westliche Gesellschaft.

Der Hörnerhelm wird bis heute als das Wahrzeichen der Wikinger wahrgenommen, obwohl seine Existenz archäologisch durch nichts belegt ist.
Der Hörnerhelm wird bis heute als das Wahrzeichen der Wikinger wahrgenommen, obwohl seine Existenz archäologisch durch nichts belegt ist.© Khosro - Shutterstock

Das Phänomen »Wikinger« betritt die Bühne der Welt mit der Aufzeichnung mehr oder weniger fiktiver Heldentaten in der meist isländischen altnordischen Sagaliteratur. Ihre Verklärung begann aber bereits mit den Schriften angelsächsischer und fränkischer Chronisten im späten 8. und frühen 9. Jh. Mit der enormen Begeisterung für das vermeintlich historische nordische Erbe während des Gotizismus des 17. und 18. Jh. und der folgenden Nationalromantik im 19. Jh. wurden die Wikinger zu einem zentralen, fast popkulturellen Element im historischen Diskurs einer nordeuropäischen Identität.

Einerseits ermöglichte die Vorstellung einer wikingerzeitlichen Vergangenheit die Konstruktion einer eigenständigen kulturellen – und bis zu einem gewissen Grad ethnischen – Identität, die angeblich auf Fakten beruht. Andererseits ist dieses historische Erbe der Wikingerzeit enorm diffus und eher partizipativ als exklusiv, sodass es nahezu unbegrenzt von jedem als Ausgangspunkt für eine Identitätskonstruktion genutzt werden kann.

Die Wikinger sind damit für die westliche Welt zu einer Art kreativem Gemeingut geworden, das jeder nach seinen individuellen Wünschen nutzen kann, und die Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Geschichte und Identität gehen weit über die heutigen Nationen hinaus. So ist es nicht verwunderlich, dass fast alle Arten von Produkten mit dem Label »Wikinger« beworben werden können. Während viele Produkte eine klare Assoziation mit Eigenschaften aufweisen, die den Wikingern oder der Wikingerzeit zugeschrieben werden – wie Reisen und Entdeckergeist, Abenteuerlust und Freiheit – zeigt die nahezu grenzenlose Verwendung des Labels, dass die Marke Wikinger in der heutigen globalisierten Welt auf nahezu jede Art und Weise genutzt werden kann, auch wenn es kaum Überschneidungen mit der historischen Realität gibt. So werden von Kleidung, Alkoholika und Gartengeräten bis hin zu Parfüm und Duschgel alle möglichen Produkte mit dem Begriff »Wikinger« vermarktet. Die Wikingerzeit scheint für unsere Gesellschaft viel mehr zu sein als nur eine vergangene Epoche.

Die Nationalromantik des 19. Jh. war in Skandinavien geprägt durch eine Hinwendung zur wikingerzeitlichen Vergangenheit: Maskenball in Stockholm im Jahr 1869.
Die Nationalromantik des 19. Jh. war in Skandinavien geprägt durch eine Hinwendung zur wikingerzeitlichen Vergangenheit: Maskenball in Stockholm im Jahr 1869. Nordiska Museet

Allgegenwärtiger Hörnerhelm

Dem polnischen Soziologen Zygmunt Bauman zufolge leben wir in einer globalisierten und komplexen Welt, die durch tiefgreifende soziale, politische und wirtschaftliche Veränderungen gekennzeichnet ist. Dieser Zustand löst Unsicherheiten und Ängste aus, und das Gefühl, sowohl die liebgewonnenen Sicherheiten wie auch die eigene Identität zu verlieren. Viele Menschen benötigen daher eine Strategie, um diesen Zustand der Gesellschaft bewältigen zu können. Das therapeutische Korrektiv kann eine idealisierte Vergangenheit als Rückzugsort und Projektionsfläche für Sehnsüchte, Bedürfnisse und Ideologien sein, die Bauman als »Retrotopia« bezeichnet. Die idealisierte Vergangenheit erlaubt es, sich von einer schwierigen Gegenwart und einer ungewissen Zukunft ab- und einer trostspendenden idealen Welt zuzuwenden, in der alles stabiler und strukturierter zu sein scheint.

Wie der gegenwärtige Erfolg im Alltagsleben zeigt, scheint sich das populäre Bild der Wikingerzeit perfekt für diese Art von nostalgischem Werkzeug für die westliche Gesellschaft zu eignen. In unserer globalisierten, hochtechnisierten und domestizierten Welt ist es sicherlich der Geist des Abenteuers und der Freiheit, des authentischen und spirituellen Lebens und sogar der gesellschaftlich legitimierten Gewalt – des Wilden und Ungezähmten –, der die Wikingerzeit zu einem Sehnsuchtsort und einem Gegenentwurf zur Moderne macht: eine Zeit, in der Männer noch Männer waren, emanzipierte Frauen den Männern in nichts nachstanden und das Leben für die Starken einfach war.

Gleichzeitig stellt man sich das wikingerzeitliche Skandinavien oft als eine überschaubare Gesellschaft vor, die durch feste Werte und Regeln definiert ist. Jeder Einzelne hat eine feste Rolle und einen festen Platz in der Gesellschaft; so entsteht ein überschaubarer »safe space«, in den man in Zeiten der Not zurückkehren kann, während das eskapistische Abenteuer, in dem alle Fesseln der gesellschaftlichen Normen und Regeln abgelegt werden können, direkt vor der eigenen Haustür wartet.

Die Wikinger selbst werden als eine krude Mischung aus wilden und rebellischen, hypermaskulinen Bad Boys und romantisierten edlen Wilden dargestellt. Sie sind das ultimative Gegenstück zu unserer domestizierten und restriktiven Zivilisation. Dieses Bild manifestiert sich im Hörnerhelm als dem ultimativen Symbol. Neben diesem Bild als archaischer Gegenentwurf zur Moderne scheint ein weiterer wichtiger Aspekt für die Faszination für die Wikinger die einzigartige Verbindung von »dem Eigenen« und »dem Fremden« zu sein. Die Wikinger sind ein Teil der historischen DNA der westlichen Welt. Sie sind allgegenwärtig und für viele Menschen von frühester Kindheit an zentrales Element, sowohl der Geschichte als auch der Unterhaltung.

Die Wikinger sind uns vertraut, Verwandte aus der Vergangenheit, die wir schätzen und die irgendwie immer noch in unserem täglichen Leben präsent sind. Gleichzeitig sind sie aber auch das »Andere«, der absolute Gegenpol zu unserer modernen Welt, ein atavistisches Wir. Sie sind all das, was wir nicht mehr sind, all das, was wir vermeintlich einmal waren, und sie können all das sein, was wir tief im Inneren letztlich sein wollen.

Dieses Bild wird von den Medien aufgegriffen, um Bedürfnisse der heutigen Gesellschaft befriedigen zu können. Sie präsentieren uns eine aufregende Ära voller Helden und selbstbewusster Frauen, voller Abenteuer und Freiheit, voller Romantik und Authentizität. So reproduzieren sie in der öffentlichen Wahrnehmung eine verklärte Version der Wikingerzeit, die – da sie genau den Bedürfnissen und Wünschen des Zeitgeistes entspricht – oft unkritisch als historische Wahrheit akzeptiert wird, auch wenn sie eher von diffusen Emotionen, zeitgenössischen Vorstellungen und gesellschaftlichen Diskursen geprägt ist als von historischer Genauigkeit.

Medienformate wie »Vikings« stellen die Wikinger nicht so dar, wie sie waren, sondern so, wie wir – das Publikum des 21. Jh. – es erwarten. Dieses Konzept eines »21st-Century-Viking Age« lässt sich am besten als »Vikingness« bezeichnen und verbindet pseudohistorische Erzählungen, moderne sozio-politische Diskurse und Trends sowie Wikingerästhetik miteinander. Ein gutes Beispiel dafür ist das zunehmende Auftreten von Tätowierungen in der Serie »Vikings«, die sich zwar archäologisch nicht belegen lassen, aber unserer zeitgenössischen Ästhetik und unserem modernen Verständnis von »coolen Bad Boys« entsprechen.

Das Erbe der Wikinger wirkt identitätsstiftend und wird von der modernen Popkultur vereinnahmt: Footballteam der Minnesota Vikings.
Das Erbe der Wikinger wirkt identitätsstiftend und wird von der modernen Popkultur vereinnahmt: Footballteam der Minnesota Vikings. Joe Bielawa

Projektionsfläche für moderne Sehnsüchte

Die Allgegenwart der Wikinger in den Medien vermittelt das Gefühl, dass wir sehr viel über die Menschen und ihre Zeit wüssten. Gleichzeitig scheinen einige Aspekte der Wikingerzeit noch immer mit etwas Geheimnisvollen behaftet zu sein; wie hinter einem Schleier verborgen können wir Dinge teilweise nur erahnen. Viele Fragen – besonders zur Spiritualität – sind von der Wissenschaft noch immer unbeantwortet und hüllen so diese Epoche in einen mysteriösen Nebel.

Das fast vollständige Fehlen von autochthonen und zeitgenössischen schriftlichen Quellen aus der skandinavischen Wikingerzeit – mit Ausnahme der Inschriften auf Runensteinen – fördert diesen Spielraum für die Schaffung einer »Retrotopia«. Diese Lücken können mit Mythen, Ideologien und zeitgenössischen Glaubensvorstellungen gefüllt werden, um neue Narrative zu schaffen, die sowohl dem aktuellen Zeitgeist wie auch ganz individuellen Wünschen entsprechen.

Unsere Vorstellung von der Wikingerzeit kann eine Bühne sein, auf der heutige Diskurse – Gender, Migration, Identität – und Visionen einer besseren Gesellschaft präsentiert und diskutiert werden. Dort erhalten diese Ideen und Visionen eine weitaus größere Legitimität – weil es einmal so gewesen sein könnte – als im Falle eines rein fiktionalen Settings. Die Wikingerzeit wird als Projektionsfläche und gleichzeitig Kontrastfolie für unsere moderne Welt konstruiert.

Die Wikinger können so alles sein, was man braucht oder sich von ihnen wünscht. Für jedes Bedürfnis und jede Emotion gibt es das passende Bild. Vor allem aber sind sie immer auch ein Zerrspiegel für unsere heutige Gesellschaft. Ein Blick auf die Wikingerzeit ist auch immer ein Blick auf die heutige Gesellschaft und ihre Bedürfnisse, Wünsche und Schwächen.

Der Mythos von kämpferischen Schildmaiden, nicht zuletzt durch die Serie Vikings verbreitet, macht die Wikingerzeit anschlussfähig an gegenwartspolitische Genderdiskurse.
Der Mythos von kämpferischen Schildmaiden, nicht zuletzt durch die Serie Vikings verbreitet, macht die Wikingerzeit anschlussfähig an gegenwartspolitische Genderdiskurse. mauritius images / Dan Rentea / Alamy / Alamy Stock Photos

Archäologie und Populismus

Das künstlich geschaffene »Retrotopia« und die daraus resultierende mediale Omnipräsenz haben ihre Auswirkungen auch auf die Wissenschaft. Es ist für Forschung und Museen zweifellos von Vorteil, wenn die Wikingerzeit in den Medien präsent ist und mit aktuellen Themen und gesellschaftlichen Fragestellungen verknüpft wird, um so die Relevanz der archäologischen Arbeit für die Gesellschaft zu demonstrieren. Gleichzeitig besteht die latente Gefahr, dass aus dem populären Wikingerbild ein im wahrsten Sinne des Wortes populistisches werden kann, das dem einer Elite entgegengestellt wird.

Im konkreten Fall ist diese Elite die Wissenschaft, deren quellenbedingte Wissenslücken und interne Debatten, vor allem aber deren regelmäßiger Widerspruch zu besonders populären Mythen, bisweilen als Beleg für die Ignoranz gegenüber dem allgemeinen Wissensstand gedeutet werden. Themen wie Geschlechterrollen, so die Debatte um die Existenz von Kriegerinnen, oder Religion und Glaubensvorstellungen scheinen dabei besonders sensibel zu sein.

Diese Diskrepanz zwischen der Erwartung der Konsumenten und dem Bild, das die Archäologie präsentiert, schafft zwei Ebenen der Rezeption, die alles andere als deckungsgleich sind: eine populäre und eine wissenschaftliche. Diese populäre oder gar populistische Wikingerzeit wird aus historischen Fakten, sofern sie in das beabsichtigte Narrativ passen, populären Mythen und sozialen Wünschen konstruiert, während inhaltliche Leerstellen mit überzeugenden und faszinierenden Erfindungen gefüllt werden. Dieses populistische Bild dient einerseits als Sehnsuchtsort und Bewältigungsstrategie in einer zunehmend komplexen und unüberschaubaren Welt und andererseits als Lehrstück für eine bessere Gesellschaft.

So stellt man sich die Wikinger im Themenpark Puy du Fou in Frankreich vor.
So stellt man sich die Wikinger im Themenpark Puy du Fou in Frankreich vor. mauritius images / Trevor Pearson / Alamy / Alamy Stock Photos

Warum brauchen wir die Wikinger?

Der Grund für die enorme Faszination, die von den Wikingern und ihrer Zeit ausgeht, liegt offensichtlich in einer einzigartigen Kombination mehrerer Faktoren. Wikinger sind leicht erkennbar, ihr Aussehen ist unverwechselbar und entspricht teilweise der modernen Ästhetik. Sie sind wild und unbezähmbar und neigen zu Extremen, sie werden mit Attributen wie Freiheit, Abenteuer und Individualität assoziiert, die in der modernen Welt zu fehlen scheinen, und stellen so das absolute Gegenbild zu unserer modernen, zivilisierten und domestizierten Welt dar. Sie sind Ikonen eines vermeintlich authentischen, besseren Lebensstils, der in einer idealisierten Vergangenheit verankert ist und in einer rastlosen Gegenwart Identität stiftet.

Dazu kommt eine außergewöhnliche Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit. Die Wikinger werden oft nicht nur als Teil einer allgemeinen Geschichte wahrgenommen, sondern als ein sehr diffuser, aber prägender Teil der eigenen Identität, der weit in eine fast mythische Vergangenheit zurückreicht. Sie sind all das, was wir als zivilisierte Menschen des 21. Jh. nicht sind, was wir aber wünschen, in früheren Zeiten einmal gewesen zu sein.

Gleichzeitig bieten ihre Kultur, ihre Gesellschaft und ihre Spiritualität und Glaubensvorstellungen genügend Leerstellen, die mit eigenen Wünschen und Ideologien gefüllt werden können, um die Wikingerzeit zu schaffen, die man haben möchte. So entsteht ein »Wikingermythos«, der nicht unbedingt der historischen Realität entspricht, der aber viel über die heutige Gesellschaft aussagt.

Dieser Mythos ist für die akademische Welt Fluch und Segen zugleich. Einerseits gibt es eine ungebrochene Faszination für und ein Interesse an der Wikingerzeit, auch bei gesellschaftlichen Gruppen, die sich sonst weniger für Geschichte interessieren. Andererseits ist diese populäre Sichtweise auf die Wikingerzeit teils extrem verzerrt und weit mehr geprägt von diffusen Emotionen, zeitgenössischen Ideen, sozialen Diskursen und gegenwärtiger Ästhetik als von historischen Fakten.

Es ist Aufgabe der Wissenschaft, mit diesem Bedürfnis nach sozialen Ikonen, Vorbildern und therapeutischen Instrumenten umzugehen. Im Idealfall greift die Archäologie Mythen und zeitpolitisch relevante Themen auf und ist bereit, die Faszination der Wikingerzeit gemeinsam mit der interessierten Öffentlichkeit auch aus deren Perspektive zu erforschen, ihre Fragen zu beantworten und ihre Vorstellungen von den Wikingern ernsthaft zu diskutieren. Auf diese Weise erhält die akademische Welt die Gelegenheit, einen gesellschaftlichen Diskurs anzustoßen, als Korrektiv zu fungieren und vor allem zu zeigen, dass die echte Wikingerzeit viel komplexer und faszinierender ist als das, was in den Medien dargestellt wird.

Im weniger idealen Fall reagiert die Forschung nur auf zeitgenössische Bedürfnisse, passt ihr Wikingerbild an die Erwartungen der Öffentlichkeit an und verliert damit sukzessive nicht nur ihre wissenschaftliche Legitimität an die Medien, sondern auch ihre gesellschaftliche Relevanz.

Das Jahresabonnement der Archäologie in Deutschland

Nutzen Sie den Preisvorteil!

  • Abopreisvorteil (D):
    99.- € zzgl. 6,30 € Versand (D) statt 131,55 € im Einzelkauf
  • inkl. Digitalzugang
  • 11,- € pro Ausgabe im Abo
  • insgesamt 9 Ausgaben im Jahr: 6 reguläre Hefte und 3 Sonderhefte
  • ohne Risiko, jederzeit kündbar 
Jetzt gratis testen