Die Münchner haben es wahrlich gut. Seit diesem April ist in die lange Reihe herausragender Kunst- und Geschichtsmuseen, über die die bayerische Hauptstadt verfügt, die traditionsreiche Archäologische Staatssammlung des Freistaats zurückgekehrt. Kaum eröffnet, schreibt ein älterer Besucher den Museumsmachern ins Heft, ihm sei beim Rundgang durch die brandneue Ausstellung »eine neue Welt eröffnet worden«. Acht Jahre lang war der Museumsbau aufgrund einer umfangreichen Generalsanierung geschlossen. Acht Jahre blieben die großen Schätze der Einrichtung der Öffentlichkeit verborgen.
Das Urteil des begeisterten Besuchers dürfte Museumsdirektor Rupert Gebhard wie Öl durch die Kehle rinnen und ihn bestärkt haben, mit dem tiefgreifenden Umbau den richtigen Weg gegangen zu sein. Direkt neben dem Englischen Garten, unweit der berühmten Surfwelle und dem weltbekannten Museumsviertel, bietet das schon seit 1976 bestehende Hauptmuseum der bayerischen Staatssammlung hinter der rostig anmutenden Cortenstahl-Fassade archäologische Funde erster Güte. Was zuvor wie im Lehrbuch präsentiert worden war, zeigt sich seit diesem Jahr als Vermittlungsmuseum par excellence. Archäologie, für jedermann verständlich und unterhaltsam aufbereitet.
Bevor das Museum für insgesamt 66 Millionen Euro in seinem Inneren umgestaltet und zum Teil erweitert wurde, stellte sich Sammlungschef Gebhard und seinen Mitarbeitern die entscheidende Frage, wie sich die Dauerausstellung in Zukunft den Besuchern präsentieren sollte: konventionell nach Art wissenschaftlicher Fachmuseen oder eben doch ganz anders? »Der Schwerpunkt unserer Museumsaufgabe«, sagt Gebhard, »ist die Vermittlung.« Die Besucher sollen sich im Museum im weitesten Sinne nicht nur fortbilden, sondern vielmehr »wiederfinden«. Und so sind die insgesamt zwölf Stationen, die der Besucher beschreitet, nachdem er das lichtdurchflutete und räumlich erweiterte Foyer des neuen Museums verlassen hat, natürlich nicht mehr einfach mit Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, Römisches Reich oder Mittelalter überschrieben.
Auf den Pelz gerückt
In der neuen Dauerausstellung, die rund 15 000 Objekte präsentiert, findet sich der Museumsbesucher mit Fragen der Identität, des Glaubens, mit den »Grundlagen des Lebens« oder dem »Wert der Dinge« konfrontiert. Fragen, wie sie auch dem Menschen der Gegenwart gestellt werden könnten, und somit Fragen, die im Grunde jeden selbst betreffen. Es ist eine Reise durch die Vor- und Frühgeschichte, die dem Betrachter an vielen Stellen ganz nah auf den eigenen Pelz rückt.
Obwohl es im Museum selbst so nicht ausgezeichnet ist, teilt sich die Schau auf rund 1200 m2 Dauerausstellungsfläche in zwei Rundgänge: das »Abenteuer Archäologie« und »die Sammlung«. »Im ersten Rundgang können sich Besucher, die noch nicht in Berührung mit dem Fach gekommen sind, in die Arbeitsweise der Archäologen einfinden«, erklärt Museumsdirektor Gebhard. In den zumeist nachtdunklen Sälen, in die der Besucher für gut zwei Stunden eintaucht, konzentriert sich alles auf die gekonnt ausgeleuchteten Exponate. Und weil es in der Archäologie immer und ausschließlich um den Menschen und seine Hinterlassenschaften geht, ist dem Thema »Mensch« auch gleich der erste Raum gewidmet.
In jedem der Säle erhält der Besucher zunächst eine schriftliche Grundinformation. Hinzu kommen im ersten Rundgang erklärende Vitrinentexte. Wegen der Vielzahl an Objekten ist der Vitrinentext in Rundgang 2 dann nur noch über QR-Codes erschlossen. Mittels eines Medienguides kann darüber hinaus die ganze Ausstellung auf einer zweisprachigen (deutsch und englisch) »Highlight«-Tour oder auf einer Tour mit dem Titel »Münchner Schmankerl« erlebt werden. Die Touren lassen sich ebenfalls mittels QR-Code aufs eigene Smartphone laden, oder der Besucher leiht sich ein Ersatzgerät im Museum. Voraussetzung hierfür: ein Kopfhörer, bei Bedarf im Museumsshop zu erwerben.
Auf viele Höhepunkte der Sammlung stößt der Besucher bereits in Rundgang 1: So auf eine römische Parademaske aus dem 2. Jh. n. Chr., ausgegraben in Straß-Moos im bayerischen Landkreis Neuburg-Schrobenhausen. Oder auf die sogenannte Rote von Mauern. Lauscht man hier der Stimme der Höhepunkte-Tour im Audioguide, beginnt die Erklärung zunächst mit einem geheimnisvollen Plätschern, einem Geräusch, das einer tiefen Höhle zu entstammen scheint. In der Folge erfährt der Zuhörer, dass sich die rätselhafte, rund 25 000 Jahre alte Statuette aus Mauern an der Donau, die auf den ersten Blick einer nackten Gestalt mit kurzen Beinen und einem ausladenden Gesäß ähnelt, durch einen raffinierten Kippeffekt verwandelt: Je nach Perspektive wird aus dem menschlichen Körper »der Schaft eines Penis, aus dem prominenten Gesäß die Hoden eines Mannes«. Die Verbindung beider Ansichten lasse den Rückschluss zu, dass die Figur einst im Zusammenhang mit Fruchtbarkeitsriten stand.
Immer weiter in die Tiefe
Ein didaktischer Kniff, der im ersten Rundgang der Ausstellung nicht jedem auf Anhieb ins Auge sticht: Die zahlreichen Bodenvitrinen, die das Forschungsterrain des Archäologen symbolisieren, werden von Raum zu Raum tiefer. Präsentiert der Rundgang »Abenteuer Archäologie« anfangs vor allem Funde, die sich in der oberflächennahen Schicht verborgen hatten, werden im hinteren Bereich tiefere Grabungsereignisse dargestellt. Zu diesem Zweck wurden eigens Doppelböden eingezogen. »Tod und Bestattung« heißt dann auch die letzte Station des ersten Rundgangs. Sie widmet sich den zahllosen Gräberfunden der bayerischen Archäologen.
Den emotionalen Zugang ermöglicht neben den akustischen, haptischen und digitalen Installationen der Ausstellung eine fiktionale Ebene in Form teils lebensgroßer Zeichnungen des Münchner Comic-Künstlers Frank Schmolke. Er sorgt mit seinen Bildergeschichten für das »Storytelling« hinter den Objekten – und erweckt sie damit ein Stück weit wieder zum Leben. Dem Museumschef ist es wichtig zu betonen, dass durch die bewusst gewählte Form der Comic-Zeichnungen erkennbar bleibt, dass archäologische Illustrationen immer Mutmaßungen darstellen. Wie es genau war, weiß niemand. »Unsere Interpretationen«, sagt Gebhard, »sind ja immer Fiktionen.« Das gebe nur niemand zu und gelte auch für die detailliertesten Modelle und Zeichnungen, mit denen in der Archäologie gearbeitet wird.
Eine visuell eindrucksvolle, wenngleich auch nicht ganz unumstrittene Verbindung sind fiktionale Ebene und Ausstellungsobjekt im Fall der Moorleiche von Peiting eingegangen. Mithilfe eines digitalen Frage- und Antwortspiels wird hier der Besucher aufgefordert, sich der Identität der auf natürlichem Wege mumifizierten Person aus dem 13. bis 14. Jh. n. Chr. anzunähern. Auf einem Bildschirm hinter der Moorleiche entsteht mit jeder Antwort ein zunehmend detailreicheres lebensgroßes Abbild einer jungen Frau, von der man zum Beispiel erfährt, dass sie bei ihrem Tod schwanger war.
Eine ethische Gratwanderung, weshalb das Museum vor den Räumen, in denen menschliche Überreste ausgestellt sind, auch Triggerwarnungen ausspricht, die allzu dünnhäutige Betrachter vorwarnt. Sensationell übrigens ist tatsächlich der Zustand der Stiefel, die die Moorleiche in ihrem nassen Grab an ihren Füßen trug. Das Schuhwerk Größe 36 aus Ziegen- und Rindsleder hat die Jahrhunderte nahezu unbeschädigt überstanden.
Zuvor zeigt sich unter anderem im Raum 5, »Geschichten«, dass die Archäologen nicht nur in den Tiefen der Menschheitsgeschichte forschen und dabei Gegenstände ausgraben wie den Faustkeil von Speckberg, mit einem Alter von über 100 000 Jahren das älteste Objekt der Dauerausstellung. Die Wissenschaftler haben inzwischen eben auch längst die jüngere bis jüngste Vergangenheit als Forschungsfeld für sich entdeckt. Beispiel: Hinterlassenschaften aus der NS-Diktatur.
Risiko Archäologie
In Saal 5 kann der Besucher mithilfe eines Terminals jede einzelne der zahlreichen Bodenvitrinen virtuell ansteuern und sich so die entsprechenden Hintergründe zu den darin ausgestellten Gegenständen erzählen lassen. Eine dieser Geschichten führt in das München der Nachkriegszeit. Im heutigen Neubaugebiet Freiham fanden die Archäologen in einem alten Bombentrichter die Hinterlassenschaften einer Person, die kurz nach Kriegsende versucht hatte, sich ihrer Nazi-Vergangenheit zu entledigen: Die Station zeige nicht zuletzt, sagt Gebhard, »dass das Risiko groß ist, dass ein Archäologe wieder ausgräbt, was zuvor vergraben und verborgen wurde«.
Wer die Dauerausstellung auf der Schmankerl-Tour in akustisch-bajuwarischer Begleitung der Schauspielerin un Kabarettistin Luise Kinseher ein zweites Mal durchstreift, taucht noch einmal ganz speziell in die lokale Archäologiegeschichte Münchens ein. Natürlich besiedelten schon lange vor der Stadtgründung im Jahr 1158 Menschen den Lebensraum beidseits der Isar. Mit bayerisch gefärbtem Zungenschlag, freilich weit davon entfernt, dass es nicht auch ein Nordlicht verstehen könnte, führt Kinseher auf ihrer Tour beispielsweise zur ältesten Münchnerin, zu einem keltischen Chirurgen oder zu einem mittelalterlichen Rindvieh.
Letzteres fand sich in einem aus Tannen- und Fichtenstämmen gezimmerten Schacht, der in den Jahren 2011 und 2012 in der nordwestlichen Ecke des Münchner Marienhofs ausgegraben wurde. Die dendrochronologische Altersbestimmung ergab, dass die Baumstämme 1261 im Alpenvorland gefällt worden sein mussten, also zu einer Zeit, als Münchens Stadtgeschichte noch jung war.
Humorvoll und mit ein wenig Augenzwinkern erfährt der Zuhörer von der bekannten Kabarettistin, dass bald nach Einrichtung des Brunnens eine Kuh in den Schacht gefallen war. »Oder wurde sie absichtlich hineingeworfen, um den Brunnen zu vergiften?«, rätselt die Sprecherin der Schmankerl-Tour. Jedenfalls war sie im Brunnenwasser alles andere als ein »Schmankerl« (bayerisch für Leckerbissen). Denn das Wasser war in der Folge verseucht, weshalb die Bewohner Münchens den Schacht teils mit Erde wieder auffüllten, auch um sich den Gestank des verwesenden Kuhkadavers vom Leib zu halten. Bis ins 18. Jh. sei der Schacht dann als Latrine und Müllablage zweckentfremdet worden.
Die hölzerne Konstruktion ist in einem der beiden Lichthöfe des Museums teilweise wieder aufgebaut worden. Das Skelett der Kuh ruht in ihrem Inneren. Dass der Schacht jahrhundertelang als Plumpsklo missbraucht wurde, sei bei der Ausgrabung übrigens noch deutlich zu riechen gewesen. Von diesem olfaktorischen Phänomen ist in der Ausstellung zum Glück nichts mehr erhalten geblieben. Der zweite Rundgang, der sich ab Raum 8 im Obergeschoss anschließt und den Auftakt zum großen Sammlungsbereich bildet, erzählt epochenübergreifend von den »Grundlagen des Lebens«, also den alltäglichen Gegenständen, ohne die zu jeder Zeit ein Überleben nicht möglich gewesen wäre. Ganz wild geht es dabei nicht durch die Jahrhunderte, denn sinnvollerweise haben die Museumsmacher in den thematisch strukturierten Räumen an einer chronologischen Binnenordnung festgehalten. Hier soll nach Auskunft der Museumsmacher zu einem späteren Zeitpunkt gegebenenfalls noch »virtual reality« zum Einsatz kommen. Mittels entsprechender Brillen oder einem digitalen Endgerät könnten dann zum Beispiel ganze Dorfstrukturen und Häuser über die jeweils ausgestellten Objekte geblendet werden.
Ein weiterer Raum im Rundgang »Sammlung«, zeitlich verortet im Frühmittelalter, stellt dann die wichtigen Fragen zur Identität der damaligen Menschen: Was unterscheidet eigentlich eine Alamannin des 6. Jh. von einer Bajuwarin oder von einer Fränkin? »Wir versuchen hier, den Besuchern klarzumachen, dass zur Identität die Selbstdarstellung genauso gehört wie die Wahrnehmung durch die Gruppe«, erklärt Gebhard. Für die Archäologen sind das Fragen von entscheidender Bedeutung.
Eine große Sammlung prachtvoller Fibeln sticht in diesem Ausstellungsbereich ins Auge. Die Bügelfibel aus Wittislingen aus der Zeit um 600 n. Chr. ist der größte und schwerste Kleiderverschluss des frühen Mittelalters, der aktuell aus Bayern und ganz Deutschland bekannt ist. Ein Geheimnis verbirgt sich auf dessen Rückseite. In Lateinisch wird hier an ein früh verstorbenes christliches Mädchen mit dem Namen Uffila erinnert. Das Wittislinger Grab, in dem diese Riesenfibel gefunden wurde, sei in seiner Ausstattung gleichbedeutend mit den Königsgräbern von St. Denis bei Paris, betont der Museumsdirektor. Ein Grab für eine Person von höchstem gesellschaftlichem Rang.
Die große Sonderausstellungshalle, die im Zuge der Sanierung neu im Untergeschoss des Museums entstand, wird aktuell noch nicht bespielt. Die erste Schau, die auf der stützenfreien, 600 m2 großen Fläche präsentiert werden soll, ist die Wanderausstellung »Urformen – Figürliche Eiszeitkunst Europas« der Arbeitsgemeinschaft Weltkultursprung. Ab dem 11. November 2024 zeigt sie 23 Kunstwerke der Altsteinzeit, die allesamt aus bedeutenden Fundstellen in Deutschland, Frankreich, Tschechien, der Slowakei und Russland stammen und zwischen 42 000 und 11 700 Jahre alt sind.
Wir sind Zeitreisende
Neu in der Archäologischen Staatssammlung ist auch, dass alle Räume barrierefrei zugänglich sind. Ein großer Vortragssaal bietet direkt neben dem Foyer und dem Café im Erdgeschoss die Möglichkeit, Veranstaltungen durchzuführen. In diesem »Forum« findet sich auch das längste Ausstellungsstück der Sammlung: ein etwa 14 m langer Einbaum aus der Zeit um 900 v. Chr., der in den 1980er-Jahren vor der Roseninsel im Starnberger See gefunden wurde. Der Einbaum wurde aufgrund seiner gewaltigen Länge noch vor Fertigstellung des Innenausbaus im Museum platziert und war bislang noch nie ausgestellt. Im Anschluss an den Besuch der Dauerausstellung bietet sich eine Einkehr im Museumscafé oder in der hauseigenen Rooftop Bar an, die mit einem Blick von der Dachterrasse des Museums auf den Englischen Garten punktet. Sie kann ganz unabhängig von den Öffnungszeiten des Museums besucht werden.
Bei der Eröffnungsfeier der neu gestalteten Archäologischen Staatssammlung am 15. April dieses Jahres hatte Rupert Gebhard Wert darauf gelegt, zu betonen, dass Archäologie keine verkopfte und verstaubte Angelegenheit ist. Archäologie solle berühren, aufwühlen und dazu anregen, unser eigenes Leben zu hinterfragen. »Wir sind Zeitreisende«, erinnerte der Sammlungsdirektor seine Zuhörer aus Wissenschaft und Politik. Und als Reisender, ob durch Zeit oder Raum, sollte man von jetzt an unbedingt bei einem Besuch in München auch in der Lerchenfeldstraße 2 einen Halt einplanen. Die neue Dauerausstellung der traditionsreichen Archäologischen Staatssammlung ist es wert.