Das heutige Kroatien war ein wichtiger Knotenpunkt für die Migration von Menschen entlang des Donaukorridors und der Adriaküste – eine Verbindung zwischen Ost und West. „Diese Region ist für das Verständnis der Bevölkerungs- und Kulturübergänge in Europa wichtig, doch aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit prähistorischer menschlicher Überreste ist bisher nur wenig über die genetische Abstammung und soziale Komplexität der damals dort lebenden Bevölkerungsgruppen bekannt“, sagt Erstautorin Suzanne Freilich, Forscherin am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte und an der Universität Wien.
Ein internationales Forschungsteam möchte diese Lücke schließen. Dazu untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwei archäologische Stätten in Ostkroatien – eine mit Bestattungen aus der mittleren Jungsteinzeit, die andere, eine mittelbronzezeitliche Nekropole mit Brand- und Körperbestattungen – und sequenzierten ganze Genome von 28 Individuen aus diesen beiden Stätten. Ziel der Forschenden war es, sowohl die genetische Abstammung als auch die soziale Organisation innerhalb beider Gemeinschaften zu verstehen – insbesondere, um lokale Aufenthaltsmuster und Verwandtschaftsbeziehungen zu untersuchen und mehr über die verschiedenen Bestattungsriten zu erfahren.
Siedlung aus der mittleren Jungsteinzeit in Popova zemlja
Die jungsteinzeitliche Siedlung Beli-Manastir Popova zemlja wird auf etwa 4.700 bis 4.300 v.u.Z. datiert und gehört zur Sopot-Kultur. Viele Kinder, vor allem Mädchen, wurden hier begraben, insbesondere entlang der Wände von Grubenhäusern. „Eine Frage war, ob in denselben Gebäuden bestattete Individuen biologisch miteinander verwandt waren“, sagt Freilich.
„Wir fanden heraus, dass sich Individuen – trotz unterschiedlicher Bestattungsriten – hinsichtlich ihrer genetischen Abstammung nicht unterschieden, ähnlich wie bei Menschen aus der frühen Jungsteinzeit. Außerdem fanden wir eine hohe Haplotypen-Vielfalt und trotz der Größe des Fundortes keine sehr eng miteinander verwandten Individuen“, fügt Freilich hinzu. Diese Gemeinschaft scheint also Teil einer großen Population gewesen zu sein, bei der Menschen außerhalb ihres eigenen Verwandtschaftskreises geheiratet haben. Interessanterweise fanden die Forschenden jedoch auch einige Fälle endogamer Paarungspraktiken, darunter zwei Individuen, die Kinder von Cousins und Cousinen ersten Grades waren, was in den alten-DNA-Aufzeichnungen selten vorkommt.
Nekropole aus der mittleren Bronzezeit in Jagodnjak-Krčevine
Der zweite Fundort, den die Forschenden untersuchten, war die mittelbronzezeitliche Nekropole Jagodnjak-Krčevine, die auf etwa 1.800 bis 1.600 v.u.Z. datiert wird. „Diese Stätte enthält Gräber, die aus etwa der gleichen Zeit stammen wie einige bereits sequenzierte Genome von Menschen, die nahe der dalmatinischen Küste lebten; und wir wollten herausfinden, ob Individuen aus diesen verschiedenen Ökoregionen eine ähnliche Abstammung haben“, sagt Stephan Schiffels, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Die Forschenden fanden heraus, dass sich die Abstammung der Menschen aus Jagodnjak tatsächlich sehr stark unterschied, denn ihre Vorfahren waren deutlich näher mit westeuropäischen Jägern und Sammlern verwandt. Dieses Abstammungsprofil findet sich auch bei einigen anderen bereits untersuchten Genomen aus dem weiter nördlich gelegenen Karpatenbecken. Diese neuen genetischen Ergebnisse stützen archäologische Belege, die auf eine gemeinsame Bevölkerungsgeschichte dieser Gruppen sowie auf das Vorhandensein von Handels- und Tauschnetzwerken hindeuten.
„Wir haben auch festgestellt, dass alle männlichen Individuen an der Fundstelle identische Y-Chromosomen-Haplotypen hatten“, sagt Freilich. „Wir identifizierten zwei männliche Verwandte ersten Grades, zweiten Grades und weiter entfernt verwandte Männer, während die eine Frau in unserer Stichprobe keine Verwandte war. Das deutet auf eine patrilokale soziale Organisation hin, bei der Frauen ihre eigene Heimat verlassen, um sich ihrem Partner in seiner Heimat anzuschließen.“ Im Gegensatz zum mittelneolithischen Fundort Popova zemlja war hier die biologische Verwandtschaft ein entscheidender Faktor, um an diesem Ort bestattet zu werden. Außerdem fanden die Forschenden Hinweise auf reich ausgestattete Kindergräber, die darauf schließen lassen, dass die Kinder ihren Status oder Reichtum wahrscheinlich von ihren Familien geerbt haben.
Die Lücke in den archäogenetischen Aufzeichnungen schließen
Diese Studie trägt dazu bei, die Lücke in den archäogenetischen Aufzeichnungen für diese Region zu schließen, indem sie die verschiedenen genetischen Abstammungen und die Arten und Weisen sozialer Organisation beschreibt, die im neolithischen und bronzezeitlichen Ostkroatien vorkamen. Dabei werden die heterogenen Bevölkerungsgeschichten der weitgehend zeitgleich lebenden bronzezeitlichen Gruppen an der Küste und im Landesinneren sowie die genetischen Verbindungen zu den Gemeinschaften weiter nördlich im Karpatenbecken herausgestellt. Außerdem beleuchtet die Studie das unter Forschenden der Archäologie und Anthropologie seit langem diskutierte Thema der neolithischen Intramural-Bestattungen – Bestattungen innerhalb einer Siedlung. Die Autorinnen und Autoren zeigen, dass dieser Bestattungsritus am Fundort Popova zemlja nicht mit biologischer Verwandtschaft einherging, sondern eher mit einer Alters- und Geschlechtsselektion im Zusammenhang mit den Glaubenssystemen der neolithischen Gemeinschaft.
Bislang haben sich nur wenige archäogenetische Studien auf gemeinschaftsinterne Muster der genetischen Vielfalt und sozialen Organisation konzentriert. „Während groß angelegte Studien von unschätzbarem Wert sind, wenn es darum geht, die Muster der genetischen Vielfalt auf einer breiteren zeitlichen und räumlichen Skala zu charakterisieren, sind regionale und standortbezogene Studien wie die vorliegende notwendig, um Einblicke in die gemeinschaftliche und soziale Organisation zu gewinnen, die regional und sogar innerhalb eines Standorts variieren kann“, sagt Freilich. „Durch den Blick in die Vergangenheit mit einer engeren Linse kann die Archäogenetik noch besser beleuchten, wie Gemeinschaften und Familien organisiert waren.“
Nach Pressemitteilung der Max-Planck-Gesellschaft
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Exklusiv in der AiD 1/2020