Im Mittelpunkt der Untersuchung stand die befestigte Siedlung Amnya, die als nördlichste steinzeitliche Wallanlage Eurasiens gilt. Tanja Schreiber, Archäologin am Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität Berlin und Doktorandin am Kieler Exzellenzcluster ROOTS, eine Mitautorin der Studie, erklärt: „Bei den detaillierten archäologischen Untersuchungen in Amnya haben wir Proben für Radiokohlenstoffdatierungen gesammelt, die das steinzeitliche Alter der Stätte bestätigen und sie als das älteste bekannte Fort der Welt ausweisen. Unsere neuen paläobotanischen und stratigraphischen Untersuchungen zeigen, dass die Bewohner Westsibiriens einen hoch entwickelten Lebensstil führten, der auf den reichhaltigen Ressourcen der Taiga basierte.“ Die prähistorischen Bewohner fingen den Forschungsergebnissen zufolge Fische im Fluss Amnya und jagten Elche und Rentiere mit Knochen- und Steinspeeren. Um ihre Vorräte an Fischöl und Fleisch zu konservieren, stellten sie kunstvoll verzierte Töpferwaren her.
Siedlung Amnya widerlegt althergebrachte Vorstellungen
Das Forschungsteam konnte bislang zehn steinzeitliche Festungsanlagen mit Grubenhäusern, die von Erdwällen und Holzpalisaden umgeben waren, nachweisen. Die Bauten belegen fortschrittliche architektonische und defensive Fähigkeiten der Taiga-Gesellschaften. Diese neue Entdeckung stellt unter Forschenden nun die bisherige Auffassung infrage, dass dauerhafte Siedlungen mit Verteidigungsanlagen erst mit der Entstehung bäuerlicher Gesellschaften verbunden waren. Die nun entdeckte Siedlung Amnya widerlegt die Vorstellung, dass Ackerbau und Viehzucht Voraussetzungen für diversifizierte Gesellschaftsstrukturen waren.
„Die sibirischen Funde tragen zusammen mit anderen weltweiten Beispielen wie etwa Göbekli Tepe in Anatolien zu einer umfassenderen Neujustierung bisheriger evolutionistischer Vorstellungen bei, die eine allmähliche Entwicklung von einfachen zu komplexen Gesellschaften nahelegen. In verschiedenen Teilen der Welt, von der koreanischen Halbinsel bis nach Skandinavien, entwickelten Jäger-Sammler-Gemeinschaften große und oftmals sesshafte Siedlungen, indem sie vor allem aquatische Nahrungsquellen nutzten. Der Reichtum an natürlichen Ressourcen in der sibirischen Taiga, wie z. B. jährliche Fischzüge und wandernde Herden, spielte wahrscheinlich eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Jäger-Sammler-Forts. Die befestigten Siedlungen mit Blick auf die Flüsse dienten möglicherweise als strategische Standorte zur Kontrolle und Ausbeutung der ergiebigen Fischgründe. Der Wettbewerbscharakter, der sich aus der Lagerung von Ressourcen und der Zunahme der Bevölkerung ergibt, ist in diesen prähistorischen Bauten offensichtlich und widerlegt frühere Annahmen, dass es in Jäger- und Sammlergesellschaften keine größeren Konflikte gab“, betont Prof. Dr. Henny Piezonka.
Die neuen Forschungsergebnisse belegen die Vielfalt gesellschaftlicher Möglichkeiten, die zu komplexer sozialer Organisation führten, welche sich in der Entstehung von Monumentalbauten wie dem sibirischen Fort in Amnya widerspiegelt. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen zudem die Bedeutung der lokalen Umweltbedingungen für die Entwicklung menschlicher Gesellschaften.
Die Studie „The world’s oldest-known promotory fort: Amnya and the acceleration of hunter-gatherer diversity in Siberia 8000 years ago” wurde Anfang Dezember in der Fachzeitschrift „Antiquity“ veröffentlicht: https://doi.org/10.15184/aqy.2023.164.
Nach einer Meldung der Freien Universität Berlin