In Europa sind die drei Varianten recht ungleich verteilt, so nimmt die Häufigkeit der ungünstigen Variante ε4 von Norden (22 Prozent) nach Süden (6 Prozent) hin ab. Auch die ε2 und ε3 Frequenzen variieren geografisch stark, wobei ε3 in der Regel die häufigste (mindestens 70 Prozent) und ε2 die seltenste Variante in einer Bevölkerung ist (maximal 12 Prozent). Wie es zu dieser Verteilung kam, hat ein Forschungsteam um Professorin Nebel erstmals mittels der Paläogenetik untersucht. Die Ergebnisse veröffentlichten sie vor Kurzem in der Fachzeitschrift Aging Cell. „Wir konnten zeigen, dass die heutige Verteilung der Varianten in Europa vor allem durch zwei große Einwanderungen vor 7.500 Jahren und vor 4.800 Jahren und den anschließenden Vermischungen von Bevölkerungsgruppen entstanden ist“, berichtet Erstautor Daniel Kolbe aus Nebels Arbeitsgruppe. „Die Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa können im Großen und Ganzen durch diese beiden demografischen Prozesse erklärt werden“, sagt Kolbe, der im Graduiertenkolleg (GRK) Translationale Evolutionsforschung (TransEvo) an der CAU promoviert.
Diese Erkenntnis ist neu. Bisher wurden die verschiedenen Häufigkeiten der drei Genvarianten hauptsächlich auf natürliche Selektion zurückgeführt. Diese Vermutung beruhte auf genetischen Daten heute lebender Menschen. „In unserer Arbeit haben wir DNA-Sequenzen aus archäologisch gut datierten Skeletten einbezogen. Diese erlauben uns, eine Zeitreise zu unternehmen und damit den möglichen Einfluss von Ereignissen in der Vergangenheit direkt zu erforschen“, so Kolbe. In die Auswertung flossen über 358 Datensätze von Knochenproben ein, die bis zu 12.000 Jahre alt sind. Daraus wurden die Häufigkeiten der APOE-Varianten in verschiedenen prähistorischen und mittelalterlichen Populationen Europas berechnet. Überraschenderweise hatten, laut Kolbe, die mobilen Jäger und Sammler der Steinzeit eine hohe Frequenz der aus heutiger Sicht schädlichen ε4 Variante (etwa 40 Prozent), während ε2 nicht nachweisbar war. Die ersten sesshaften Bauern hingegen wiesen eine sehr niedrige ε4-Frequenz (etwa 4 Prozent) auf und eine hohe ε3-Frequenz (etwa 91 Porzent).
„Diese Unterschiede sind wahrscheinlich als Anpassungen an die spezifischen Ernährungs- und Lebensweisen der beiden Gruppen entstanden“, so Kolbe. Aus modernen Studien ist bekannt, dass körperliche Aktivität das Risiko von ε4-Trägern für die Alzheimer Erkrankung verringern kann. „Ob die Jäger und Sammler aufgrund von ε4 auch an der Alzheimer Erkrankung litten, werden wir wohl nie wissen. Aber es könnte sein, dass sie der schlechten Variante im wahrsten Sinne des Wortes davongelaufen sind, da sie täglich lange Strecken zu Fuß zurückgelegt haben“, erklärt Kolbe. „Unsere Studie unterstützt damit die Empfehlung, dass sich ein aktiver Lebensstil auszahlt, vor allem für die rund 15 Prozent der Deutschen, welche die ε4 Variante haben“. Im Gegensatz dazu scheinen ε2 und ε3 einen Vorteil für die ersten bäuerlich lebenden Menschen dargestellt zu haben. APOE ε2 könnte zu einer besseren Verdauung von stärkereicher Ernährung beigetragen haben, die häufig auf dem Speiseplan der Menschen stand, die Landwirtschaft betrieben haben. APOE ε3 wiederum begünstigte wahrscheinlich die Speicherung von Kalorien in Form von Fett als Reserve für schlechte Zeiten. Diese spezifischen Anpassungen stehen wohl nicht im Zusammenhang mit Langlebigkeit, die möglicherweise ein modernes Phänomen ist.
Die Studie untermauert, wie wichtig evolutionsbiologische Forschungsansätze für viele Herausforderungen der Neuzeit sind: „Unsere Ergebnisse zeigen, wie eine ungünstige genetische Prädisposition durch einen angepassten Lebensstil kompensiert werden kann, in diesem Falle ist dies vor allem für die alternde Bevölkerung heutzutage relevant“, erklärt Letztautorin Nebel, die schon lange die molekularen Grundlagen der Langlebigkeit erforscht.
Originalpublikation:
Kolbe D, da Silva NA, Dose J, Torres GG, Caliebe A, Krause-Kyora B, Nebel A. Current allele distribution of the human longevity gene APOE in Europe can mainly be explained by ancient admixture. Aging Cell. 2023 Mar 23:e13819. https://doi.org/10.1111/acel.13819
Nach Pressemitteilung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel