Erstgeborener Bruder hatte offenbar höheren Status
Der als „Kurgan“ bezeichnete Grabhügel in der südlichen Ural-Region an der Grenze von Europa nach Asien enthielt die Überreste von sechs Brüdern, ihren Frauen, Kindern und Enkeln. Der vermutlich älteste Bruder hatte acht Kinder mit zwei Frauen, wobei eine der Frauen aus den asiatischen Steppengebieten im Osten stammte. Die anderen Brüder hingegen wiesen keine Anzeichen von Polygamie auf und lebten wahrscheinlich monogam mit deutlich weniger Kindern.
„Die Grabstätte bietet eine faszinierende Momentaufnahme einer prähistorischen Familie“, erklärt Jens Blöcher, Erstautor der Studie. „Es ist bemerkenswert, dass der erstgeborene Bruder offenbar einen höheren Status innehatte und dadurch auch erhöhte Reproduktionschancen. Wir kennen dieses Recht des männlichen Erstgeborenen zum Beispiel aus dem Alten Testament, aber auch aus historischen Zeiten in Europa. In Nepluyevsky sind die Unterschiede im Hinblick auf die Anzahl der Nachkommen allerdings besonders deutlich.“
Die genomischen Daten offenbaren noch mehr. Alle im Kurgan begrabenen Frauen waren zugezogen. Die Schwestern der begrabenen Brüder haben offensichtlich andernorts eine neue Heimat gefunden. Joachim Burger, der Seniorautor der Studie, erklärt dazu: „Weibliche Heiratsmobilität ist ein universell verbreitetes Muster, das aus wirtschaftlicher und evolutionärer Sicht sinnvoll ist. Während ein Geschlecht lokal bleibt und die Kontinuität der Stammeslinie und des Besitzstandes sichert, heiratet das andere Geschlecht von außen ein, um Verwandtenehen und Inzucht zu verhindern.“
Genetische Vielfalt war bei den Frauen größer
Die Populationsgenetiker aus Mainz bemerkten an den Genomen der prähistorischen Familie auch, dass die Diversität der Frauen höher war als die der Männer. Die eingeheirateten Frauen stammten also aus einem größeren Gebiet und waren nicht untereinander verwandt. In ihrer neuen Heimat folgten sie ihren Männern ins Grab.
Vor 3.800 Jahren lebten die Bevölkerungen im Süden des Urals als Hirten, die bereits Metallverarbeitung kannten, aber kaum Anzeichen für Ackerbau hinterließen. „Der Gesundheitszustand der hier begrabenen Familie muss sehr schlecht gewesen sein“, kommentiert Blöcher und fügt hinzu: „Die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen betrug etwa 28 Jahre, die der Männer 36 Jahre.“
Dann brach die Benutzung des Kurgans plötzlich ab. In der letzten Generation, die bestattet wurde, sind fast nur noch Säuglinge und Kleinkinder zu finden. Möglicherweise wurden die Bewohner von Krankheiten dezimiert oder die verbliebene Bevölkerung zog auf der Suche nach einem besseren Leben an einen anderen Ort.
Die Familie war der zentrale Kern dieser Gemeinschaft
„Die Studie ermöglicht uns nicht nur Einblicke in die Lebensweise und Sitten prähistorischer Gesellschaften, sondern auch in ihre Wirtschaftssysteme und Überlebensstrategien“, kommentiert Maxime Brami, Prähistoriker in Burgers Arbeitsgruppe. „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Familie den zentralen Kern der Nepluyevsky-Gemeinschaft bildete, wobei nicht verwandte Personen zumindest in der Grabstätte eine untergeordnete Rolle spielten. Von den untersuchten 32 Individuen waren 80 Prozent blutsverwandt.“
Die Studie liefert somit wertvolle Einblicke in das Familienleben prähistorischer Gesellschaften. Derzeit laufende Forschung in der Mainzer Arbeitsgruppe soll dazu beitragen, das komplexe soziale Gefüge unserer Vorfahren besser zu verstehen und Rückschlüsse auf die menschliche Entwicklung und Kultur aus biologischer Sicht zu ziehen.
Forschungsprojekt im Rahmen der Kooperation der Rhein-Main-Universitäten
Das Forschungsprojekt erfolgt im Rahmen der Kooperation der strategischen Allianz der Rhein-Main-Universitäten (RMU), welche die Goethe-Universität Frankfurt am Main, die Mainzer Johannes Gutenberg-Universität und die Technische Universität Darmstadt als renommierte Forschungsuniversitäten bilden. Mit einer Rahmenvereinbarung im Dezember 2015 wurde diese bereits langjährig bestehende Partnerschaft zur strategischen Allianz ausgebaut, um die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Universitäten zu stärken, gemeinsam Studienangebote zu verbessern und Wissenstransfer und Vernetzung mit der Gesellschaft zu gestalten.
Pressemitteilung der Mainzer JGU