Ein Zufallsfund aus dem Jahr 1853
Spannend ist schon die Geschichte rund um die Entdeckung der römischen Figuren: Im Jahr 1853 findet ein Bauer in der Nähe von Ingelheim am Rhein die drei aus lothringischem Kalkstein gefertigten Statuen mit dem Gesicht nach unten in der Erde. Zwei von ihnen sind fast vollständig erhalten, die dritte ein Torso aus Kopf und Oberkörper. Der Finder verkauft die Objekte an Albertus Gerrit de Roock, einen niederländischen Kaufmann, der als Freibeuter und Zuckerproduzent auf Java ein riesiges Vermögen angehäuft und sich in Ingelheim niedergelassen hatte. De Roock wiederum schenkt die Statuen bald darauf dem Verein für Nassauische Altertumskunde in Wiesbaden. In Ingelheim, wo lediglich Kopien gezeigt werden, stehen die Grabfiguren lange Zeit im Schatten der Pfalz Karls des Großen. Erst im Oktober 2021 kehren die Originale nach Ingelheim zurück. Dank der digitalen Rekonstruktion als Teil eines monumentalen Grabbaus können die antiken Kunstwerke nun wieder dort bewundert werden, wo sie schon vor rund 2000 Jahren so manchen Reisenden auf der römischen Fernstraße beeindruckt haben dürften.
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Virtuelle Vergangenheit
Digitale Technologien drängen mit Macht in die Archäologie. Eine besondere Chance bietet die Virtualisierung: Virtuelle Rekonstruktionen von Objekten oder gar ganzer Lebenswelten schlagen eine Brücke von der Wissenschaft zur Öffentlichkeit, wecken Interesse und Verständnis für das kulturelle Erbe. Apps holen Funde aus dem Archiv und tragen sie in die Landschaft, bringen Ausgrabungsbefunde ins Museum oder gleich alles auf einmal ins heimatliche Wohnzimmer. Im Thema zeigen Fachleute exemplarisch die schier grenzenlosen Möglichkeiten.
Exklusiv in der AiD 6/19
Tatsächlich gelten die Ingelheimer Figuren in der Fachwelt als herausragende Beispiele antiker Bildhauerkunst in den römischen Provinzen. Im Laufe der Jahrzehnte wurden sie mehrmals wissenschaftlich untersucht. Ferdinand Kutsch erkannte bereits 1930 ihre herausragende Qualität, als er sie mit Skulpturen von der römischen Gräberstraße im nahen Mainz-Weisenau verglich. Er stellte fest, dass die Ingelheimer Figuren „eine gewisse vornehme Haltung“ aufwiesen und ihre Köpfe „von innen heraus“ lebten: „Hier pocht es unter der Haut und ist seelische Spannung im Gesicht, (es) lebt noch etwas Vergeistigung im griechischen Sinne, und das gerade hebt sie heraus.“ Die Archäologin Walburg Boppert schloss sich diesem Urteil im Jahr 2005 an, als sie im Rahmen ihrer Untersuchung der Weisenauer Gräberstraße „die Ingelheimer Grabfiguren als die geglücktesten Werke“ bezeichnete. Die Vergleiche mit anderen Grabsteinen der Region aus dieser Zeit, etwa mit dem des Schiffers Blussus und seiner Frau Menimane, legen nahe, dass die Ingelheimer Figuren in derselben Werkstatt in Mainz gefertigt worden sein müssen (sog. Blussus-Annaius-Werkstatt).
Datierung in claudische Zeit
Auch hinsichtlich der Datierung ist sich die Fachwelt einig: Kleidung, Schmuck und Haartracht lassen auf eine Errichtung des Monuments in den Jahren zwischen 40 und 55 n. Chr. schließen, also in der Zeit des Kaisers Claudius. Ein zu Wohlstand und gesellschaftlich hohem Ansehen gelangter römischer Bürger, womöglich ein Veteran einer der Mainzer Legionen, ließ es wohl für sich und seine Familie errichten. Eine Inschrift mit Namen, die einst zweifellos vorhanden gewesen ist, wurde nie gefunden. Das gilt auch für sonstige Elemente der Architektur, weshalb angenommen wird, dass das Monument selbst noch in römischer Zeit niedergelegt und alle brauchbaren Teile andernorts als Spolien wiederverwendet wurden. Durch Vergleiche mit Funden aus anderen Regionen im Römischen Reich lässt sich das Aussehen dennoch plausibel rekonstruieren.
Die Statuen veranschaulichen zudem den Prozess der Romanisierung, also die allmähliche Anpassung der einheimischen Bevölkerung an die Sitten und Gebräuche der Römer. Gräber mit figürlichen Darstellungen der Verstorbenen waren der ansässigen keltischen Kultur fremd, diese Sitte kam erst mit den Eroberern aus Italien an den Rhein. Kleidung und Schmuck der beiden weiblichen Verstorbenen, etwa die Distelfibeln, sind noch überwiegend von der Tracht der einheimischen Bevölkerung geprägt. Vermutlich stammten sie also aus der Region, womöglich sogar aus dem heutigen Rheinhessen. Beide Frauenfiguren tragen aber gleichzeitig eine Palla, das typische lange Obergewand römischer Frauen. Diese Mischtracht markiert gewissermaßen den Übergang von der ehemals keltischen zu einer gallo-römischen Gesellschaft. Die männliche Statue hingegen, der sogenannte Togatus, erscheint durch und durch „römisch“. Er trägt die namensgebende Toga, mit der er sich als Bürger des Imperium Romanum präsentiert. Sein verlorener linker Arm wurde daher mit einer Schriftrolle (volumen) in der Hand rekonstruiert. Passend dazu wurde ein Schriftrollenbehälter (scrinium) zu seinen Füßen ergänzt.
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Nachweis des Pigments „Ägyptisch Blau“
Ein wahrer Glücksfall der Archäologie sind die Reste der einstigen Bemalung, die an zwei Figuren noch mit bloßem Auge zu erkennen ist: Nur dadurch war es möglich, auch ihre Farbigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu rekonstruieren. Im August 2022 hatte Prof. Dr. Ernst Pernicka vom Mannheimer Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie (CEZA) Mikroproben entnommen und im Labor mittels Rasterelektronenmikroskopie und Röntgendiffraktometrie deren chemische Zusammensetzung ermittelt. Dabei stellte sich heraus, dass für die noch deutlich sichtbare rote Farbe Rötel (Roter Ocker) aus dem Mineral Hämatit verwendet wurde, ein in der Antike übliches Pigment für Rot- und Gelbtöne. Überraschender war der Ursprung der schwarzen Farbspuren: Diese Pigmente wurden offenbar mit Knochenasche hergestellt. Für römische Wandmalereien war eher Ruß oder Pflanzenasche gebräuchlich.
Anfang April 2023 folgten weitere Untersuchungen durch Dr. Louisa Campbell, die als renommierte Expertin für die Analyse von Farbpigmenten auf prähistorischen, römischen und mittelalterlichen Skulpturen gilt. Die Wissenschaftlerin von der Universität Glasgow nutzte verschiedene neuartige Analyseverfahren, die sie zum Teil selbst mit entwickelt hat. Die meisten der angewandten Techniken sind non-invasiv, kommen also ohne weitere Zerstörung der spärlichen Farbreste aus. Campbell arbeitete u. a. mit Mikrofotografie, Röntgenfluoreszenz, Raman-Spektroskopie und der sogenannten Visible Induced Infrared Luminescence (VIL). Mit diesem Verfahren kann das Pigment „Ägyptisch Blau“ nachgewiesen werde, dessen Verwendung an den Ingelheimer Figuren schon die Untersuchung von Ernst Pernicka nahegelegt hatte. Campbell konnte Spuren des Pigments nun zweifelsfrei nachweisen. „Ägyptisch Blau“ ist einer der ältesten künstlichen Farbstoffe der Welt. In Ägypten wurde das Pigment schon seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. hergestellt.
Die Statuen sollten lebendig aussehen
Schon während der laufenden Untersuchungen wurde deutlich, dass die Statuen nicht einfach nur gleichmäßig flächig bemalt wurden. Die antiken Künstler, bei denen es sich um gut bezahlte Spezialisten gehandelt haben muss, simulierten durch den raffinierten Einsatz von hellen und dunklen Abstufungen unterschiedlicher Farbtöne Licht- und Schatteneffekte. Sie gestalteten die Farbigkeit also wie bei einem Gemälde, um den Figuren einen naturalistischen, lebendigen Eindruck und eine spektakuläre Fernwirkung zu verleihen. Es zeigte sich zudem, dass kleinere Details, die der Steinmetz nicht herausarbeiten konnte, offensichtlich aufgemalt wurden. So entdeckte Campbell auf dem Ring der vollständigen Frauenstatue rote Farbpigmente, die vermutlich eine Gemme aus Karneol darstellen sollten.
André Madaus, Stadt Ingelheim