Die Zahl der aus Obergermanien bekannten Heiligtümer, Bildwerke, Inschriften und Requisiten des Mithras-Kultes übertrifft deutlich diejenige der benachbarten Provinzen Niedergermanien und Rätien. Dabei liegt im Limesgebiet, also im Vorfeld der militärischen und zivilen Zentren Mogontiacum/Mainz und Argentorate/Straßburg, ein Schwerpunkt der Verbreitung.
Schwerpunkt der Nachweise des Mithras-Kultes
Dieser Schwerpunkt steht bis zu einem gewissen Grade im Zusammenhang mit der systematischen Erforschung des Limes. Dieser führte seit dem späten 19. Jh. im Nordosten Obergermaniens zu einem besonders guten Forschungsstand. Südlich des oberen Neckars sind die Zeugnisse des Kultes hingegen seltener. Zudem reichen sie bis in den Süden der Provinz nach Orbe-Boscéaz und (möglicherweise) Colonia Iulia Equestris/Nyon am Genfer See. Zur Bedeutung Obergermaniens in der Mithras-Forschung trug bei, dass dort bereits sehr früh einige besonders wichtige Kultbilder entdeckt wurden. Es handelt sich um Kultreliefs, die außer der zentralen Darstellung der Stiertötung in zusätzlichen Bildfeldern oder Friesen weitere Szenen aus der Mithras-Legende enthalten: Nida/Frankfurt-Heddernheim (1826), Heidelberg-Neuenheim (1838) und Osterburken (1861). Ausgesprochen spektakulär sind die drehbaren, doppelseitigen Kultbilder aus Dieburg, Erlensee-Rückingen, Stockstadt und Nida/ Frankfurt-Heddernheim.
Bis in die 1970er Jahre standen Steindenkmäler wie die genannten mit ihrem reichen Bildprogramm sowie Inschriften im Mittelpunkt der Mithras-Forschung. Gut dokumentierte, moderne Ausgrabungen verlagerten seit Mitte der 1970er Jahre den Blick weg von der Interpretation der bildreichen Kultreliefs und hin zu Spuren des Kultgeschehens wie Kleinfunden, Opfer- oder Kultabfallgruben, die in den mit verfeinerten Methoden untersuchten Mithräen und deren unmittelbarer Umgebung dokumentiert wurden. Dank der Grabung nach Schichten und entsprechender Trennung der Kleinfunde gelangen differenzierte Einblicke zur jeweiligen Baugeschichte.
Die in Holz-Erde-Bauweise gebauten Tempel von Gelduba/Krefeld-Gellep in Niedergermanien und Quintana/Künzing in Rätien (1998) wären ebenso wie die Konstruktionen aus Holzfachwerk, Flechtwerk und Rasensoden im Mithräum von Wiesloch (1988) in den davorliegenden Jahrzehnten möglicherweise aufgrund ungenügender Grabungsverfahren unentdeckt geblieben. Zudem kam es zu einer Veränderung des Verbreitungsbildes. Da die neu entdeckten Mithräen nicht in vici der Kastelle am Limes, sondern im Hinterland in Zivilsiedlungen oder bei Villen zum Vorschein kamen. Dabei sind den im Norden Obergermaniens neu entdeckten Mithräen von Groß Gerau (1989), Mundelsheim (1988), Wiesloch (1988), Güglingen (1999, 2002) südlich des Hochrheins im Süden der Provinz Orbe-Boscéaz (1996) und Kempraten (2015) an die Seite zu stellen. Geogaphisch anzuschließen ist das Mithräum von Forum Claudii Vallensium/Martigny (1993) im Vallis Poenina/Wallis.
Die Ausgrabungen der vergangenen vier Jahrzehnte bestätigten bereits frühere Beobachtungen, dass die Mithräen innerhalb der zugehörigen Siedlungen eher randlich liegen. Zwei extra muros gelegene Mithras-Heiligtümer in Höhlen scheint es bei Aventicum/Avenches in der Grotte de Mermoud und der Grotte de Jolival gegeben haben. Wichtige Hinweise auf die Höhe und Sichtbarkeit eines Mithras-Tempels gab die umgestürzte Südwand des prächtig ausgestatteten Mithräums von Forum Claudii Vallensium/Martigny, die auf eine Wandhöhe bis zum Dachfirst von mindestens sechs Metern hindeutet. Zudem konnte in Martigny eine hofartige Abgrenzung des Areals durch einen Zaun nachgewiesen werden.
Mithras-Verehrung nach dem «Fall» des Limes
Für die Mithräen im Limesgebiet markiert die Aufgabe des Obergermanisch-Rätischen Limes und der Rückzug aus den jenseits von Rhein und Donau gelegenen Territorien im letzten Drittel des 3. Jhs. n. Chr. das Ende ihres Bestehens. In den nach 270 n. Chr. weiterhin zum Reich gehörenden Gebieten Obergermaniens wie auch Rätiens herrschten andere Verhältnisse. Diese Gebiete wurden seit dem zweiten Drittel des 3. Jhs. n. Chr. zwar ebenfalls von germanischen Einfällen und reichsinternen Konflikten, die in der Errichtung des Gallischen Sonderreiches (imperium Galliarum) gipfelten, in Mitleidenschaft gezogen. Doch bedeuteten diese krisenhaften Ereignisse samt Zerstörungen keinesfalls das Ende der dortigen Mithras-Heiligtümer. Sie bestanden vielmehr fort, als im Zuge der Konsolidierung des Reiches unter Kaiser Aurelian (270–275 n. Chr.) die rechtsrheinischen und norddanubischen Territorien der Provinzen Obergermanien, Rätien und Dakien geräumt wurden.
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ANTIKE WELT 123: Mithras
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