Migrationen in den Balkan im Spiegel antiker Genome

Antikes Genmaterial aus dem Balkan hift den Aufstieg und Fall der römischen Reichsgrenze zu verfolgen und enthüllt slawische Migrationen nach Südosteuropa.

Eine außergewöhnlich reicher Sarkophagfund in Viminacium, in dem ein Mann lokaler Abstammung und eine Frau anatolischer Abstammung begraben wurden. Er enthielt mehrere Gold- und Silberobjekte, darunter zwei Goldohrringe, einen Silberspiegel, eine Silberbrosche und 151 Goldperlen.
Eine außergewöhnlich reicher Sarkophagfund in Viminacium, in dem ein Mann lokaler Abstammung und eine Frau anatolischer Abstammung begraben wurden. Er enthielt mehrere Gold- und Silberobjekte, darunter zwei Goldohrringe, einen Silberspiegel, eine Silberbrosche und 151 Goldperlen (Foto: Ilija Mikić).

Eine multidisziplinäre Studie hat die genomische Geschichte der Balkanhalbinsel während des ersten Jahrtausends v. Chr. rekonstruiert. Zu dieser Zeit war die Region Ort eines tiefgreifenden demografischen, kulturellen und linguistischen Wandels. Das Team hat vollständige Genomdaten von 146 antiken Menschen analysiert, die hauptsächlich in Serbien und Kroatien ausgegraben wurden. Mehr als ein Drittel stammt von der römischen Militärgrenze der riesigen archäologischen Stätte Viminacium in Serbien. Diese Daten wurden mit Informationen aus dem Rest der Balkanregion und benachbarten Gebieten kombiniert.

Die in der Zeitschrift Cell veröffentlichte Arbeit betont den Kosmopolitismus der römischen Grenze. Auch die langfristigen Folgen der Migrationen, die mit dem Zusammenbruch der römischen Kontrolle einhergingen, werden hevorgehoben. Archäologische DNA zeigt, dass trotz der heutigen nationalen Grenzen, gemeinsame demografische Prozesse die Bevölkerungen auf dem Balkan prägten.

„Archäogenetik ist eine unverzichtbare Ergänzung zu archäologischen und historischen Beweisen. Ein neues und viel reichhaltigeres Bild ergibt sich, wenn wir schriftliche Aufzeichnungen, archäologische Überreste wie Grabbeigaben und menschliche Skelette sowie alte Genome synthetisieren“, sagte Mitautor Kyle Harper, ein Historiker an der University of Oklahoma.

Massiver demografischer Zustrom auf den Balkan aus dem Osten

Nach der römischen Besatzung des Balkans verwandelte sich diese Grenzregion in einen Verkehrsknotenpunkt des Reiches. Die Region brachte 26 römische Kaiser hervor, darunter Konstantin den Großen, der die Reichshauptstadt in den östlichen Balkan verlegte, als er Konstantinopel gründete. Die Analyse alter DNA zeigt, dass es während der Zeit der römischen Kontrolle einen großen demografischen Beitrag von Menschen anatolischer Abstammung gab, der im Balkan eine langfristige genetische Prägung hinterließ. Diese genetische Veränderung ähnelt sehr stark dem, was eine vorherige Studie in Rom selbst gezeigt hat. Es ist bemerkenswert, dass dies auch in der Peripherie des Römischen Reiches geschah.

Eine besondere Überraschung ist, dass es keine Hinweise auf einen genetischen Einfluss von Migranten italischer Abstammung auf dem Balkan gibt. „Während der Kaiserzeit erkennen wir einen Zustrom von anatolischer Abstammung auf dem Balkan und nicht den von Populationen, die von den Menschen Italiens abstammen“, sagte Íñigo Olalde, Archäogenetiker an der Universität des Baskenlandes und Mitautor der Studie. „Diese Anatolier wurden intensiv in die lokale Gesellschaft integriert. In Viminacium gibt es beispielsweise einen außergewöhnlich reichen Sarkophag, in dem wir einen Mann lokaler Abstammung und eine Frau anatolischer Abstammung gemeinsam begraben finden.“

Sporadischer Langstreckenmobilität aus weit entfernten Regionen

Das Team entdeckte auch Fälle von sporadischer Langstreckenmobilität aus weit entfernten Regionen. Zum Beispiel einen Jugendlichen, dessen genetische Signatur am nächsten an der Region Sudan liegt und dessen Kindheitsdiät sich stark von der der übrigen analysierten Personen unterscheidet. Er starb im 2. Jahrhundert n. Chr. und wurde mit einer römischen Öllampe begraben.

„Wir wissen nicht, ob er ein Soldat, Sklave oder Händler war, aber die genetische Analyse seiner Bestattung zeigt, dass er wahrscheinlich seine frühen Jahre in der Region des heutigen Sudan verbracht hat, außerhalb der Grenzen des Reiches, und dann eine lange Reise unternommen hat, die mit seinem Tod in Viminacium (dem heutigen Serbien) an der nördlichen Grenze des Reiches endete“, sagte Carles Lalueza-Fox, Wissenschaftler am Institut für Evolutionsbiologie und Direktor des Museums für Naturwissenschaften von Barcelona.

Die Integration „barbarischer“ Völker ins Römische Reich

Die Studie identifizierte Individuen mit gemischter Abstammung aus Nordeuropa und der pontischen Steppenregion auf dem Balkan ab dem 3. Jahrhundert, lange bevor die endgültige Kontrolle des römischen Imperiums zusammenbrach. Anthropologische Analysen ihrer Schädel zeigen, dass einige von ihnen künstlich deformiert wurden. Diese Sitte ist für einige Populationen der Steppen typisch, einschließlich der Gruppen, die antike Autoren als „Hunnen“ bezeichneten. Diese Ergebnisse spiegeln die Integration von Menschen von jenseits der Donau in die Balkangesellschaft Jahrhunderte vor dem Fall des Reiches wider.

„Die Grenzen des Römischen Reiches unterschieden sich von den Grenzen der heutigen Nationalstaaten. Die Donau diente als geografische und militärische Grenze des Reiches. Sie fungierte jedoch auch als entscheidender Kommunikationskorridor, der für die Bewegung von Menschen durchlässig war, die vom Reichtum Roms in seiner Grenzzone angezogen wurden“, sagte Mitautor Michael McCormick, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Harvard University.

Verformter Schädel aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., zugeschrieben einem Individuum von den Steppen. Ursprünglich von Archäologen als möglicher Gepide oder Goten bezeichnet
Verformter Schädel aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., zugeschrieben einem Individuum von den Steppen. Ursprünglich von Archäologen als möglicher Gepide oder Goten bezeichnet (Foto: Carles Lalueza-Fox).

Slawische Populationen veränderten die demografische Zusammensetzung des Balkan

Das Römische Reich verlor im sechsten Jahrhundert dauerhaft die Kontrolle über den Balkan. Die Studie enthüllt die anschließende groß angelegte Ankunft von Individuen im Balkan, die genetisch den modernen slawischsprachigen Bevölkerungen Osteuropas ähnlich sind. Ihre genetische Signatur macht 30-60% der Abstammung der heutigen Balkanvölker aus. Sie repräsentiert eine der größten dauerhaften demografischen Verschiebungen in Europa in der frühen Mittelalterzeit.

Die Studie ist die erste, die die sporadische Ankunft einzelner Migranten vor späteren Bevölkerungsbewegungen nachweist, wie zum Beispiel einer Frau osteuropäischer Abstammung, die in einem hochimperialen Friedhof begraben wurde. Ab dem 6. Jahrhundert kommen Migranten aus Osteuropa in größerer Zahl vor. Wie im angelsächsischen England wurden die Bevölkerungsveränderungen von Sprachwechseln begleitet. „Unsere Analyse alter DNA zeigt, dass diese Ankunft slawischsprachiger Bevölkerungen auf dem Balkan über mehrere Generationen hinweg erfolgte und ganze Familiengruppen umfasste, einschließlich Männer und Frauen“, erklärt Pablo Carrión, Forscher am Institut für Evolutionsbiologie und Mitautor der Studie.

Die Etablierung slawischer Populationen auf dem Balkan war im Norden am größten, mit einem genetischen Beitrag von 50-60% im heutigen Serbien. Sie nahm allmählich nach Süden ab, mit 30-40% in Griechenland auf dem Festland und bis zu 20% auf den Ägäischen Inseln. „Die größte genetische Auswirkung der slawischen Migrationen ist nicht nur bei den heutigen slawischsprachigen Bevölkerungen auf dem Balkan sichtbar, sondern auch an Orten, die heute keine slawischen Sprachen sprechen, wie Rumänien und Griechenland“, sagte Co-Senior-Autor David Reich, Professor für Genetik am Blavatnik Institute an der Harvard Medical School und Professor für menschliche Evolutionsbiologie in der Fakultät für Künste und Wissenschaften der Harvard University.

Historiker, Archäologen und Genetiker arbeiten zusammen

Die Studie umfasste die Zusammenarbeit von über 70 Forschern, darunter Archäologen, die die Fundorte ausgegraben haben, Anthropologen, Historiker und Genetiker. „Diese Arbeit zeigt, wie genomische Daten nützlich sein können, um über umstrittene Debatten um Identität und Abstammung hinauszugehen, die von historischen Erzählungen inspiriert wurden, die in den aufkommenden Nationalismen des neunzehnten Jahrhunderts verwurzelt sind und in der Vergangenheit zu Konflikten beigetragen haben“, sagte Lalueza-Fox.

Das Team generierte auch genomische Daten heutiger Serben, die sie mit alten Genomen und anderen heutigen Gruppen aus der Region vergleichen konnten. „Wir haben festgestellt, dass es keine genomische Datenbank moderner Serben gab. Daher haben wir Menschen beprobt, die sich aufgrund gemeinsamer kultureller Merkmale als Serben identifizierten, auch wenn sie in verschiedenen Ländern wie Serbien, Kroatien, Montenegro oder Nordmazedonien lebten“, sagte Mitautor Miodrag Grbic, Professor an der University of Western Ontario in Kanada.

Die vergleichende Analyse der Daten mit denen anderer moderner Menschen in der Region sowie den antiken Individuen zeigt, dass die Genome der Kroaten und Serben sehr ähnlich sind. Sie spiegeln eine gemeinsame Herkunft mit ähnlichen Anteilen an slawischer und lokaler balkanischer Abstammung widerspiegeln. „Die Analyse alter DNA kann, wenn sie zusammen mit archäologischen Daten und historischen Aufzeichnungen analysiert wird, zu einem tieferen Verständnis der Geschichte des Balkans beitragen“, sagte Grbic. „Das Bild, das sich ergibt, zeigt keine Spaltung, sondern gemeinsame Geschichte. Die Menschen der Eisenzeit im gesamten Balkan waren ähnlich von Migrationen während der Zeit des Römischen Reiches betroffen und von slawischen Migrationen später. Gemeinsam führten diese Einflüsse zum genetischen Profil des modernen Balkans – unabhängig von nationalen Grenzen.“

Nach einer Meldung der University of Oklahoma

Originalpublikation:  Olalde & Carrión et al., 2023, Cell 186, 1-14; December 7, 2023; DOI: https://doi.org/10.1016/j.cell.2023.10.018

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