Erbgutanalysen menschlicher Knochen stoßen an Grenzen, wenn etwa die DNA schlecht erhalten ist oder die Proben nicht zerstört werden dürfen. In solchen Fällen können auch Vergleiche der Struktur und Form bestimmter Teile des Skeletts detaillierte Informationen über Verwandtschaftsverhältnisse liefern, und zwar zerstörungsfrei. Das hat eine großangelegte Studie eines internationalen Forschungsteams unter der Leitung von Dr. Hannes Rathmann und Professorin Katerina Harvati vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment und dem Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie an der Universität Tübingen ergeben.
Geprüft wurde mithilfe computergestützter Verfahren in den größten verfügbaren Datenbeständen, inwieweit sich die weltweite genetische Diversität von Menschen in der Struktur und Form, der sogenannten Morphologie, unterschiedlicher Skelettelemente widerspiegelt. Die besten Ergebnisse erzielte das Team bei Vergleichen bestimmter Elemente im Gebiss und am Schädel, jedoch mit unterschiedlicher Gewichtung. Die neuen Ergebnisse können in archäologischen und forensischen Untersuchungen genutzt werden, wenn DNA-Analysen nicht möglich sind. Die Studie wurde in dem Fachjournal PNAS Nexus veröffentlicht.
Merkmale mit unterschiedlicher Gewichtung
Die Morphologie des menschlichen Skeletts ist hochvariabel und unterscheidet sich weltweit sowohl zwischen Individuen wie auch zwischen Populationen. Diese Diversität entwickelte sich infolge komplexer Wechselwirkungen verschiedener evolutionärer Kräfte über einen langen Zeitraum. „Evolutionsbiologen teilen diese Kräfte in zwei unterschiedliche Prozesse auf. Ein neutraler Prozess bezeichnet den Vorgang, bei dem Mutationen neue Diversität hervorbringen, die den betroffenen Individuen keine direkten Vor- oder Nachteile bietet. Diese neue Diversität vermehrt oder verliert sich dann zufällig durch die sogenannte Gendrift innerhalb einer Population“, erklärt Hannes Rathmann.
„Dem gegenüber stehen nicht-neutrale Prozesse, die beispielsweise den Vorgang bezeichnen, bei dem Mutationen sich auf die Fitness eines Individuums auswirken. Die betroffenen Individuen können sich dann entweder besser oder schlechter an Umweltfaktoren anpassen. Um detaillierte Rückschlüsse auf Verwandtschaftsverhältnisse zu ziehen,“ so der Wissenschaftler, „sollten ausschließlich Skelettelemente verwendet werden, die sich durch neutrale Prozesse entwickelten.“
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Neue Ausgrabungen des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1266 enthüllen ein bislang unbekanntes Phänomen aus der Jungsteinzeit. Die Skelette von 38 Menschen, übereinander, nebeneinander, gestreckt auf dem Bauch, gehockt auf der Seite, auf dem Rücken mit abgespreizten Gliedmaßen, und fast alle ohne Kopf – was die Archäologinnen und Archäologen des Kieler Sonderforschungsbereichs 1266 der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und das Archäologischen Instituts der Slowakischen Akademie der Wissenschaften (Nitra) in diesem Sommer im slowakischen Vráble in einer jungsteinzeitlichen Siedlung entdeckt haben, hat selbst erfahrene Forschende überrascht.
Das Team konzentrierte sich in der Studie auf Gebiss und Schädel, deren Strukturen als vorherrschend durch neutrale Prozesse entwickelt gelten. „Entgegen früherer Annahmen geben nicht alle Merkmale im Gebiss und am Schädel den zugrundeliegenden genetischen Code verlässlich wieder, einige eignen sich viel besser als andere“, berichtet Rathmann. Als besonders geeignet erwiesen sich kleinere morphologische Merkmale an den Zähnen. So wie Rillenmuster in den Kronen, die Anzahl und Größe der Höcker, die Form der Wurzeln und die An- oder Abwesenheit von Weisheitszähnen. „Die besten Ergebnisse, fast nahezu identisch mit einer klassischen genetischen Verwandschaftsanalyse, erzielten wir jedoch, wenn wir alle Merkmale von Schädel und Gebiss in integrierter Form einbezogen“, berichtet er.
Zerstörungsfreie Alternative
Katerina Harvati, die Seniorautorin der Studie, fügt hinzu: „Die Ergebnisse erweitern unser Verständnis über die Ursprünge der menschlichen Skelettdiversität. Sie sind auch vielversprechend für die Anwendung in archäologischen und forensischen Untersuchungen.“ Erbgutanalysen seien häufig nur sehr eingeschränkt möglich, wenn die DNA schlecht erhalten ist. Das sei häufig der Fall bei sehr alten Knochen oder solchen, die einem warmen Klima ausgesetzt waren. Auch müssten man die Knochen für DNA-Analysen beschädigen, was bei brüchigem Material oder seltenen Funden oft nicht in Frage komme. „In solchen Fällen ist die zerstörungfreie Untersuchung von Schädel und Gebiss eine wertvolle Alternative, um beispielsweise vergangene Bevölkerungsgeschichte oder die menschliche Abstammung in archäologischen Zusammenhängen zu rekonstruieren oder Verwandtschaftsprofile in der Forensik zu erstellen.“
Pressemeldung der Universität Tübingen
Originalpublikation:
Hannes Rathmann, Silvia Perretti, Valentina Porcu, Tsunehiko Hanihara, G. Richard Scott, Joel D. Irish, Hugo Reyes-Centeno, Silvia Ghirotto, Katerina Harvati (2023): Inferring human neutral genetic variation from craniodental phenotypes. PNAS Nexus, Volume 2, Issue 7, pgad217, https://doi.org/10.1093/pnasnexus/pgad217