Über die Geschichte der Tupí-Guaraní-Sprachfamilie ist allgemein wenig bekannt. Sie umfasst rund 40 heute noch gesprochene Sprachen sowie mindestens weitere neun, die bereits ausgestorben sind. Die Zahl der Sprecherinnen und Sprecher pro Sprache reicht von weniger als einhundert, wie zum Beispiel bei Amondawa und Juma, bis zu sechs Millionen wie beim paraguayischen Guaraní. Nur einige wenige der Tupí-Guaraní-Sprachen, denen wir Wörter wie „Jaguar“ und „Piranha“ verdanken, wurden auch verschriftlicht. „Vor allem die ausgestorbenen Sprachen kennen wir aus vergangenen Jahrhunderten über notierte Lautschriften früherer Forscherinnen und Forscher“, berichtet Fabrício Gerardi.
Vergleich der Grundvokabeln
Für die Verwandtschaftsanalyse der verschiedenen Tupí-Guaraní-Sprachen nutzte das Forschungsteam vergleichende Aufstellungen von Grundvokabeln. Sind etwa die Wörter für „Bein“, „singen“ oder „Fledermaus“ in den untersuchten Sprachen gleich oder zumindest ähnlich? Oder teilen sie keinen gemeinsamen Wortstamm? „In der molekularbiologischen Verwandtschaftsanalyse zum Beispiel von verschiedenen Tier-
oder Pflanzenarten werden die jeweiligen Gensequenzen herangezogen. Es wird erhoben, welche Bereiche gleich oder ähnlich sind. Über die allgemeine zufällige Rate von Genveränderungen, die sogenannten Mutationen, lässt sich auch abschätzen, vor wie langer Zeit sich zwei verwandte Arten von einem gemeinsamen Vorfahren abgespalten haben“, erklärt der Computerlinguist Gerardi. Den Mutationen in den Genen bei biologischen Arten entsprechen Lautverschiebungen oder Ersetzungen bei verwandten Sprachen. So heißt der Tapir auf Tupinambá, einer der Tupí-Guaraní-Sprachen, „tapiʔir“, auf Awetí, einer Sprache, die sich von diesen Sprachen abgespalten hat, „tapiʔit“.
Über großangelegte Analysen von Vokabeln und grammatischen Strukturen der Tupí-Guaraní-Sprachen mit Algorithmen aus der Molekularbiologie lässt sich ein Familienbaum erstellen. „Wir wollten wissen, wie der Baum aussieht, wie stark verwandt einzelne Sprachen untereinander sind, wie alt jede Sprache ist und wann sie sich in Tochtersprachen aufgespalten hat“, sagt Gerardi.
Zeitkalibrierung über archäologische Funde
Das Verbreitungsgebiet der Tupí-Guaraní-Sprachfamilie erstreckt sich in Breite und Länge jeweils über rund 4.000 Kilometer. „Teilweise haben wir archäologische Funde aus dem gleichen Gebiet, die wir den Einzelsprachen versuchen zuzuordnen. Zum Beispiel gibt es in den Sprachen bestimmte Wörter für die Beschreibung spezieller Eigenschaften der dort entdeckten Keramiken“, sagt der Computerlinguist. „Dadurch lässt sich ein zeitlicher und räumlicher Zusammenhang zwischen der Sprache und den archäologischen Funden herstellen. Die Keramiken konnten über die Radiokarbonmethode datiert werden – so haben wir indirekt eine zeitliche Kalibrierung der Sprachenentwicklung“, sagt Gerardi. Auf diesem Weg konnte er gemeinsam mit dem Forschungsteam den wahrscheinlichen Ursprungsort der Tupí-Guaraní-Sprachfamilie auf das Tapajós-Xingu-Becken vor rund 2.550 Jahren datieren. „Um unsere Ergebnisse besser abzusichern, müssten jedoch die archäologischen und linguistischen Befunde weiter erforscht werden.“
Publikation:
Fabrício Ferraz Gerardi, Tiago Tresoldi, Carolina Coelho Aragon, Stanislav Reichert, Jonas Gregorio de Souza, Francisco Silva Noelli: Lexical Phylogenetics of the Tupí-Guaraní Family: Language, Archaeology, and the Problem of Chronology. PLOS ONE, https://doi.org/10.1371/journal.pone.0272226
Nach Pressemitteilung der Uni Tübingen