Das hat die Aufarbeitung von Stücken aus der Neandertalerfundstelle Le Moustier in der Dordogne unter der Leitung von Dr. Patrick Schmidt aus der Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen und Dr. Ewa Dutkiewicz vom Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin ergeben. Die Entwicklung von Klebstoffen und deren Einsatz für die Herstellung von Werkzeugen gelten als einer der besten materiellen Belege für die kulturelle Evolution und die kognitiven Fähigkeiten früher Menschen. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht.
Im Museumsbestand wiederentdeckt
Die Steinwerkzeuge aus Le Moustier werden in der Sammlung des Museums für Vor- und Frühgeschichte aufbewahrt. Sie waren bisher nicht näher untersucht worden. Der Schweizer Archäologe Otto Hauser hatte sie 1907 aus dem oberen Felsüberhang von Le Moustier geborgen, der während der mittelpaläolithischen Epoche des Moustérien vor 120.000 bis 40.000 Jahren von Neandertalern genutzt wurde. Bei einer internen Aufarbeitung des Sammlungsbestandes wurden sie wiederentdeckt und ihr wissenschaftlicher Wert erkannt. „Die Sammlungsstücke waren einzeln verpackt und seit den 1960er Jahren unberührt. Dadurch waren die anhaftenden Reste organischer Stoffe sehr gut erhalten“, berichtet Ewa Dutkiewicz.
Reste von Ocker und Bitumen an Steinwerkzeugen
Die Forscherinnen und Forscher entdeckten an mehreren Steinwerkzeugen, wie Abschlägen, Schabern und Klingen, Reste einer Mischung aus Ocker und Bitumen. Ocker ist ein natürlich vorkommendes farbiges Erdpigment. Das Kohlenwasserstoffgemisch Bitumen ist unter anderem Bestandteil von Asphalt. Es kann aus Erdöl hergestellt werden, kommt jedoch auch natürlicherweise im Boden vor. „Wir waren überrascht, dass der Ockeranteil bei mehr als 50 Prozent lag. Denn an der Luft getrocknetes Bitumen kann auch unverändert als Klebstoff genutzt werden und verliert durch Zugabe von solch großen Anteilen Ocker seine Klebeeigenschaften“, sagt Schmidt. Das habe er mit seinem Team in Zugversuchen und mit experimentell hergestelltem Vergleichsmaterial getestet.
„Anders war es, als wir flüssiges Bitumen einsetzten, das sich zum Kleben eigentlich gar nicht eignet. Fügt man 55 Prozent Ocker hinzu, erhält man eine formbare Masse“, sagt er. Die sei nur gerade so klebrig, dass ein Steinwerkzeug darin steckenbleibt, die Hände aber sauber bleiben – das Richtige also für einen Griff. „Eine mikroskopische Untersuchung der Gebrauchsspuren in Zusammenarbeit mit der New York University ergab, dass die Klebstoffe an den Geräten aus Le Moustier so verwendet worden sind“, berichten die Wissenschaftler.
Gezieltes Vorgehen bei der Nutzung von Kleber
Die Nutzung von Kleber mit mehreren Komponenten, darunter verschiedene klebrige Substanzen wie Baumharze und auch Ocker, sei bisher vor allem von frühen modernen Menschen, dem Homo sapiens, in Afrika bekannt gewesen. „Solche technologischen Entwicklungen und das Verständnis für Materialeigenschaften wurden auch als erster Ausdruck umfassender kognitiver Prozesse der Menschen betrachtet, die unserer heutigen Denkweise bei industriellen Prozessen entsprechen“, so Schmidt.
In der Region von Le Moustier mussten Ocker und Bitumen aus weit voneinander entfernten Orten zusammengetragen werden, das bedeutet großen Aufwand, erfordert Planung und eine gezielte Vorgehensweise. „Wir gehen unter Einbeziehung des ganzen Fundzusammenhangs davon aus, dass das aufwendig produzierte Klebematerial von Neandertalern hergestellt wurde“, so Dutkiewicz. „Was unsere Studie zeigt ist, dass sich beim frühen Homo sapiens in Afrika und den Neandertalern in Europa ähnliche Denkmuster widerspiegeln“, sagt Schmidt. „Ihre verschiedenen Klebstofftechnologien haben die gleiche Bedeutung für unser Verständnis von der Menschwerdung.“
Meldung der Universität Tübingen
Originalpublikation:
Patrick Schmidt, Radu Iovita, Armelle Charrié-Duhaut, Gunther Möller, Abay Namen,
Ewa Dutkiewicz: Ochre-based compound adhesives at the Mousterian type-site document complex cognition and high investment. Science Advances, https://doi.org/10.1126/sciadv.adl0822