Wie alt sind diese Knochen? – eine Standardfrage in der Archäologie. Sie kann heute mit Hilfe des Kohlenstoffisotops ¹⁴C in vielen Fällen sehr genau beantwortet werden. Doch es gibt Ausnahmen. Bestimmte Lebensgewohnheiten, wie zum Beispiel die von prähistorischen Jäger-Sammler-Fischer-Gemeinschaften, können 14C-Daten verfälschen. Der Grund: Fluss-, See-, oder Meeresökosysteme enthalten typischerweise weniger 14C als Landtiere oder -Pflanzen. Ein internationales Team geleitet von Forschenden des Leibniz-Zentrums für Archäologie (LEIZA), des Exzellenzclusters ROOTS und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) konnten jetzt erstmals prähistorischen Bestattungen am wichtigen Fundplatz Sakhtysh (Russland) korrekt datieren und so neue Muster in der kulturellen Entwicklung vor mehr als 5000 Jahren erkennen. „Gleichzeitig ermöglicht die dabei angewandte Methode auch in anderen Regionen mit ähnlichen Umweltbedingungen eine präzisere Datierung von menschlichen Überresten“, sagt Dr. John Meadows. Er ist Erstautor der Studie, die heute in der internationalen Fachzeitschrift Science Advances erschienen ist.
Eine der größten bekannten prähistorischen Bestattungsplätze in Nordosteuropa
In Sakhtysh, rund 200 Kilometer nordöstlich von Moskau, wurden zwischen 1962 und 1992 etwa 180 prähistorische Bestattungen ausgegraben. Keramikreste zeigen, dass sie aus der Zeit von etwa 5000 bis 3000 v. u. Zeit stammen. Damit ist Sakhtysh eine der größten bekannten Bestattungsplätze dieser Epoche in Nordosteuropa.
Die genaue Datierung der einzelnen Bestattungen und damit auch deren Reihenfolge blieb aber lange unsicher, denn die bestatteten Menschen waren zu Lebzeiten Fisch-Esser. „Es ist bekannt, dass diese Ernährung das Verhältnis von Kohlenstoff-14 zu Kohlenstoff-12 in den Knochen reduziert. Die Knochen erscheinen dadurch viel zu alt. Diese Verschiebungen sind sehr variabel und bislang nur schlecht zu korrigieren“, erklärt John Meadows, der am Leibniz-Zentrum für Archäologie am Standort Schleswig (LEIZA-ZBSA), sowie an der CAU in Kiel forscht und Mitglied im ROOTS-Netzwerk ist.
Kohlenstoff-14-Datierungen liegen bis zu 900 Jahre daneben
Das Team der aktuellen Studie verglich Isotopenanalysen an je zwei Proben von Menschen, die in Sakhtysh ausgegraben wurden: eine an einem Zahn und eine an einem Felsenbein. Die Zähne und der Felsenbeinknochen sind die einzigen mineralisierten Teile des menschlichen Körpers, die nach ihrer Entstehung nicht umgebaut werden. Sie werden allerdings in unterschiedlichen Altersstufen gebildet. „Wenn sich die Ernährung während der Kindheit und Jugend geändert hat, können wir anhand der unterschiedlichen Isotopenwerte von Zahn und Felsenbein eines Individuums Rückschlüsse darauf ziehen, wie stark die 14C-Datierung des Individuums korrigiert werden muss“, sagt John Meadows.
Ein mathematisches Modell dieser Unterschiede ergab bei einigen Bestattungen eine Änderung der Datierung von bis zu 900 Jahren. Die Korrekturen führen zu einer ganz neuen Chronologie des Bestattungsplatzes, die neue Interpretationen der kulturellen Hintergründe erlaubt. So konnte das Team ein für den Bestattungsplatz sehr ungewöhnliches Grab als das jüngste identifizieren. Es stammt aus dem frühen 3. Jahrtausend v. u. Zeit, die ältesten Bestattungen dagegen aus dem frühen 5. Jahrtausend v. u. Zeit
Neue Chronologie erlaubt neue Erkenntnisse über prähistorische Gemeinschaften
„In die korrekte Reihenfolge gebracht, zeigen die Gräber Verschiebungen der Handelsnetze, die sich zwischen 3500 v. u. Z. und 3000 v. u. Z. von Osten eher in Richtung Ostseeraum verlagerten. Ein weiteres Ergebnis der Untersuchungen ist, dass zwischen den einzelnen Bestattungen oft mehr als eine Generation liegt, der Bestattungsplatz über einen langen Zeitraum also nur sporadisch genutzt wurde“, erklärt die Co-Autorin Anastasia Khramtsova vom Exzellenzcluster ROOTS.
„Nur wenn wir Funde zeitlich richtig einordnen können, können wir sie auch richtig interpretieren. Umwelteinflüsse aus 14C-Datierungen herausrechnen zu können ist also fundamental. Wenn es als Vergleich keine organischen Grabbeigaben gibt, die von Landtieren oder -Pflanzen stammen, kann unsere Methode in Zukunft helfen, entsprechende Unsicherheiten auch an anderen Fundplätzen zu verringern“, resümiert John Meadows.
Gemeinsame Pressemitteilung des Leibniz-Zentrums für Archäologie (LEIZA) und des Exzellenzclusters ROOTS an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU)
Originalpublikation:
Meadows, J., A. Khramtsova, H. Piezonka, B. Krause-Kyora, N. da Silva, E. Kostyleva, M. Dobrovolskaya, E. Veselovskaya, S. Vasilyev (2024): Dietary 14C reservoir effects and the chronology of prehistoric burials at Sakhtysh, 2 central European Russia. Science Advances, https://doi.org/10.1126/sciadv.adk2904