Lise Loktu, Archäologin und Forscherin am norwegischen Institut für Kulturerbeforschung (NIKU), arbeitet daran, den Zustand und die Erhaltung von Skeletten und Textilien aus mehreren großen Begräbnisstätten im Smeerenburgfjorden im Nordwest-Spitzbergen-Nationalpark zu vergleichen. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden hier insgesamt 600 Walfänger begraben. Einige davon wurden zwischen 1985 und 1990 ausgegraben. "Die Gräber sind einzigartige archäologische Quellen, die nirgendwo sonst in Europa oder der Welt erhalten sind. Bei dieser Arbeit sind viele ethische Aspekte zu berücksichtigen. Wir möchten die Gräberfelder so wenig wie möglich stören, in diesem Projekt werden die Analysen jedoch an bereits ausgegrabenen Skeletten aus den 1980er Jahren durchgeführt", sagt Loktu.
Mehr Niederschlag, Erdrutsche und Erosion – weniger Permafrost
Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass die raschen Klimaveränderungen, die in den letzten 30 bis 40 Jahren auf Spitzbergen dokumentiert wurden, erhebliche Auswirkungen auf die kulturelle Umwelt haben. Ein wärmeres Klima führt zu extremeren Wetterbedingungen mit mehr Niederschlägen, Erdrutschen und Bodensenkungen, die die Landschaft verändern. Die Ausdehnung des Permafrostbodens nimmt ab und die Auftauschicht taut immer tiefer auf. In Kombination mit weniger Meereis und stärkerem Wellengang an der Küste trägt dies dazu bei, dass Sedimente aus der küstennahen Kulturlandschaft verstärkt weggespült werden.
"In Likneset haben wir dokumentiert, dass viele Gräber durch diese klimabedingten Veränderungen zerstört werden", sagt Loktu. "Die Särge zerfallen, Skelett und Textilien sind dem Eindringen von Sedimenten, Wasser und Sauerstoff ausgesetzt. Insgesamt beschleunigen diese Prozesse die mikrobielle Zersetzung des archäologischen Materials. Der Abbau erfolgt so schnell, dass er von Jahr zu Jahr sichtbar wird. Es ist dringend notwendig, diese Gräber zu dokumentieren, bevor sie vollständig und für immer verschwunden sind. Viele Informationen müssen noch gesammelt werden."
Neue Skelettanalysen geben Aufschluss über Gesundheit und Lebensbedingungen
Die Analysen der zwischen 1985 und 1990 ausgegrabenen Skelette wurden von der Osteologin Elin T. Brødholt (UOS) durchgeführt. Sie lieferten völlig neue Informationen über die Gesundheits- und Lebensbedingungen der Walfänger.
Neue aDNA- und Isotopenanalysen deuten auf eine nationale Vielfalt unter den Walfängern hin, die wahrscheinlich aus vielen verschiedenen europäischen Ländern stammten.
Die Skelette können viel über wirtschaftliche, soziale, religiöse und gesundheitliche Aspekte der europäischen Bevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert verraten.
Obwohl es sich bei den Walfängern überwiegend um arme Menschen handelte, erkennen die Forscher Hinweise auf eine soziale Differenzierung. Unter anderem ist die durchschnittliche Körperlänge in Likneset deutlich höher als in anderen Gräberfeldern der Region, was darauf hindeuten könnte, dass die Menschen in besseren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen aufwuchsen. Dies spiegelt sich nach Aussage der Forscher wahrscheinlich auch in der Menge und Art der Kleidung wider, die den Verstorbenen mit ins Grab gegeben wurde. Bekannt ist, dass die Kleidung der Verstorbenen versteigert wurde, um Geld für Verwandte in der Heimat zu sammeln.
Die Skelette von Likneset zeugen von einem harten Leben der Walfänger, das zeitweise von Unterernährung und Krankheiten geprägt war. Die Todesursache der meisten Menschen dürfte Skorbut gewesen sein, eine Krankheit, die ohne Zugang zu Vitamin C innerhalb kurzer Zeit tödlich verlief. Die Spuren an den Skeletten zeigen, dass die meisten Menschen schon in jungen Jahren hart gearbeitet haben. Viele weisen auch Abnutzungsspuren auf, die auf eine starke Beanspruchung des Oberkörpers hindeuten.
"Diese Knochenveränderungen wurden früher mit der Verwendung von Kajaks oder Paddeln bei der Robben- und Waljagd in Verbindung gebracht, unter anderem bei den Inuit. Möglicherweise hatten diese Menschen spezielle Aufgaben bei der Jagd, wie Rudern, Paddeln, Harpunieren oder ähnliches", sagt Loktu.
Meldung NIKU
Das Forschungsprojekt „ Skeletons in the Closet“ stellt den ersten Teil des langfristigen Forschungsplans von NIKU „Studies On Climate Change and The Degradation of Archaeological Environments in Svalbard“ (CLIMARCH) dar. Ziel ist es, die Zusammenhänge zwischen dem Klimawandel und der zunehmenden Verschlechterung archäologischer Kulturumgebungen auf Spitzbergen zu untersuchen und darüber hinaus Licht auf die einzigartigen kulturellen und historischen Werte zu werfen, die dadurch verloren gehen.