Von Holger Dietl, Jörg Orschiedt, Andreas Siegl und Harald Meller
Bei Schachtarbeiten im heutigen Kurpark von Bad Dürrenberg im Saalekreis kam am 4. Mai 1934 eine Doppelbestattung zutage, deren herausragende Bedeutung erst Jahrzehnte später erkannt werden sollte. Die Bergung des Skeletts sowie der Beigaben musste damals bis zum nächsten Tag erfolgen. So beschränkte sich die Dokumentation auf Skizzen und einen kurzen Grabungsbericht: Eine Rekonstruktion des Befunds war aus diesem Grund bis heute nur auf Basis der damals erfolgten Beschreibungen und Zeichnungen möglich.
Daraus und aus einem später publizierten Artikel geht hervor, dass der Körper der Frau stark zusammengepresst in hockender Position mit angezogenen Armen und Beinen in einer kleinen rechteckigen Grabgrube von 90 × 55 cm bestattet wurde und sich zum Zeitpunkt der Bergung zwischen ihren Oberschenkeln die Reste eines Kinderschädels befanden. Die unteren 30 cm der Grube waren dicht mit Ocker durchsetzt, der sich sowohl an den Knochen als auch vielen Begleitfunden abgelagert hatte. Weiter konnte während der Grabung festgestellt werden, dass sich das Steinbeil unter dem rechten Oberarm sowie zwei der insgesamt sechs Lamellen von Keilerhauern in der Halsgegend der Frau befanden. Letzteres ließ sich nun anhand eines kürzlich wiederentdeckten Zeitungsartikels von 1934 bestätigen, der sogar darauf hinwies, dass es sich um die beiden einzigen durchbohrten Hauer gehandelt haben muss, die im Halsbereich gelegen haben.
Ein außergewöhnliches Grab
Neben dem Rötel waren in den 1930er-Jahren vor allem die Keilerhauer und das Steinbeil von zentraler Bedeutung, da diese die angeblich schnurkeramische Zeitstellung der Bestattung belegten. Diese Fehleinschätzung wurde erst durch eine 14C-Datierung in den 1970er-Jahren endgültig korrigiert. Das Grab datiert inzwischen auf 7000–6800 v. Chr. und gehört in die späte Mittelsteinzeit.
Bemerkenswert sind neben pathologischen Auffälligkeiten am Skelett die vielen Grabbeigaben. Sie überschreiten die übliche Menge und Zusammensetzung bei Bestattungen der Jäger- und Sammlerkulturen des Mesolithikums in Mitteldeutschland deutlich. Meist findet man dort entweder keine Beigaben oder nur eine Handvoll Feuersteinartefakte. In Bad Dürrenberg dagegen ergeben der Kopf- und Körperschmuck, viele Faunenreste, Stein-, Knochen- sowie Geweihartefakte mit einigen Hundert Fundobjekten eines der am reichsten ausgestatteten mesolithischen Gräber Mitteleuropas.
Die Beigabe eines schädelechten Rehgeweihs sowie die Vielzahl und Erlesenheit der weiteren beigegebenen Funde und die aufrechte Sitzhaltung spielen eine zentrale Rolle in der Deutung der dort Bestatteten als Schamanin. In Anlehnung an die seit den 1950er-Jahren bekannten mittelsteinzeitlichen »Hirschgeweihkappen« von Star Carr in England und weiteren Exemplaren aus Deutschland wurde mit dem Bad Dürrenberger Geweihfund einer Interpretation gefolgt, die auf ethnografisch belegten Beispielen von Geweihkappen bei Schamanen im heutigen Sibirien, Nordamerika oder Nordeuropa beruht. Das Geweih wird bei sibirischen Schamanen als wichtiges Element der Tracht angesehen und dient in rituellen Zeremonien (Trance) zur Sicherstellung des Jagderfolgs, aber auch zur Identifikation mit dem Tier, um sich seiner Kraft zu bedienen. Das Bad Dürrenberger Rehgeweih weist jedenfalls Zurichtungsspuren im Schädelbereich und verstärkt Schnittspuren am Schädel unterhalb der Rosenstöcke wie auch unter den Mittelsprossen auf der Innenseite der Geweihstangen auf. Die Schnittspuren am Schädel stammen sicherlich von der Entfleischung oder Häutung des Tieres nach der Erlegung, was jedoch als Erklärung für die Schnittspuren am Geweih nicht herhalten kann.
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Beeindruckend für die Doppelbestattung ist der Schmuck aus Tierzähnen. Von den bereits erwähnten Keilerhauerlamellen liegen derzeit noch fünf Exemplare vor, die aus längs gespaltenen Eckzähnen von Wildschweinen hergestellt wurden. Sie weisen starke Kratz-/Schabespuren sowie Polituren und Verrundungen auf, die teils auf die Bearbeitung der Lamellen, aber auch auf deren intensiven Gebrauch zurückzuführen sind. An Altfunden konnten insgesamt 60 Schneide- und Eckzähne von Wildschweinen, Hirschen sowie Auerochsen oder Wisenten dokumentiert werden. Unter den 24 an der Wurzel durchbohrten Tierzähnen tragen vor allem sechs Wildschweinschneidezähne starke Abnutzungsspuren und Polituren im Bereich der Perforationen. Zusammen mit den Keilerhauern muss darin ein Hinweis auf einen über lange Zeit getragenen Schmuck gesehen werden, der die besondere soziale Stellung der Bestatteten hervorhebt. Dahingegen könnten 18 durchbohrte Auerochsen- oder Wisentzähne sowie die anderen nicht durchbohrten Tierzähne einen wenig getragenen Kleiderbesatz oder Halsschmuck darstellen
Zu Werkzeugen modifizierte Reste von Rehen und Rothirschen konnten aus der Grabgrube in Form von sechs Knochen- und einem Geweihartefakt geborgen werden. Neben vier Pfriemen und einem nadelartigen, über 20 cm langen Knochenobjekt sticht eine Spatel aus dem Mittelfußknochen eines Rothirschs mit Rötelspuren an der abgenutzten Spitze hervor. In Kombination mit einer roten Ockerknolle mit Abriebfacette belegt das Stück die gezielte Verwendung von Rötel. Zudem wird das Set durch eine durchbohrte und als Hammer und Werkzeugschaft genutzte Rothirschgeweihstange ergänzt.
Einzigartig für mesolithische Bestattungen in Mitteldeutschland ist die Beigabe von Rückenpanzern mindestens dreier europäischer Sumpfschildkröten. Neben der Entfernung der Wirbelreste im Inneren der Panzer lassen Schabe- und Kratzspuren an den Innenseiten auf die Nutzung als Schale oder Behältnis schließen. Zu weiteren Faunenfunden zählen Schalen verschiedener Süßwassermuscheln, einige Reste vom Reh wie auch Einzelknochen von Igel und Kranich. Diese sind entweder als Nahrungsreste oder rituelle Beigaben für die Bestatteten anzusehen.
Wie außergewöhnlich die Beigabenauswahl ist, unterstreicht zudem der Fund eines Oberarmknochens von einem Kranich. Über eine längsseitig angelegte Öffnung wurden höchstwahrscheinlich die darin entdeckten 29 geometrischen Mikrolithen und zwei Lamellen aus Feuerstein eingebracht, wodurch der Knochen als Behälter gedient haben muss. Die darin befindlichen Steinartefakte wurden vermutlich als Projektile oder Widerhaken für Pfeilschäfte oder andere Kompositgeräte hergestellt. Neben weiteren Feuersteinartefakten wie einfachen Klingen und Abschlägen konnten zudem mehrere Felsgesteingeräte dokumentiert werden, worunter sich das bereits angesprochene Steinbeil sicherlich als das wissenschaftlich wertvollste Objekt erwies. Das vollständig geschliffene Beil ähnelt zwar typologisch neolithischen Exemplaren, bildet aber mittlerweile mit sehr wenigen anderen Stücken eines der ältesten geschliffenen Steinbeile in Europa. Das Ensemble an Geräten aus Felsgesteinen wird darüber hinaus noch durch einen Retuscheur, einen triangulär geformten Reib-/Glättstein und einen Schlagstein komplettiert.
Die Frau und der Säugling
Die sehr gut erhaltenen menschlichen Skelettreste aus dem Jahr 1934 wurden zunächst für die eines Mannes und eines Säuglings gehalten. Bis auf einige Hand- und Fußknochen sowie der Halswirbelsäule konnten die Reste des Erwachsenen fast vollständig geborgen werden. Während das unvollständig erhaltene Kind in der folgenden Diskussion um das Grab zunächst keine weitere Rolle mehr spielte, avancierte das als Mann bestimmte Individuum von dem Anthropologen Kurt Heberer und dem Archäologen Karl Bicker während des Nationalsozialismus zu einem der Schnurkeramikkultur zugerechneten Protagonisten des Indogermanentums. Die Bestattung sollte die Herkunft der Schnurkeramikkultur mit Wurzeln im Mesolithikum und damit der Indoeuropäer aus dem Norden belegen.
Erfolgte die Zuweisung der Grabfunde zur Mittelsteinzeit – mit Ausnahme des Steinbeiles – erst in den 1970er-Jahren, so konnte der Anthropologe Hans Grimm das Geschlecht bereits im Jahr 1957 korrekt bestimmen. Er stellte zweifelsfrei fest, dass es sich um eine Frau handelte, die mit einem Säugling bestattet wurde. Grimm wies zudem darauf hin, dass an der Schädelbasis unmittelbar am Rand des großen Hinterhauptsloches ein Defekt in Form einer kleinen Einschnürung vorlag, den er als Spur einer rituellen Enthauptung deutete. Bei späteren Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass der Defekt an seinen Kanten stark abgerundet war und somit nicht auf den Einsatz eines scharfkantigen Objekts zurückzuführen war. Vielmehr handelt es sich um eine Anomalie eines zum Gehirn führenden Blutgefäßes. Dies wurde um den später zwischen Tierknochen entdeckten ersten Halswirbel ergänzt, dessen hinterer Bogen unvollständig ausgebildet war. Der Bogen endet exakt an der Stelle, an der sich die Einschnürung am Hinterhauptsloch befindet. Während einer Nachgrabung 2019 (s. u.) wurde neben weiteren bislang fehlenden Skelettelementen beider Individuen auch der zweite Halswirbel der Frau entdeckt. Auch dieser Wirbel zeigt eine Anomalie, die sich auf den Wirbelfortsatz in der Form einer aufragenden Knochenspange beschränkt. Es erscheint daher vorstellbar, dass bei einer bestimmten Kopfhaltung durch das Einklemmen einer der Arterien die Blutversorgung des Gehirns beeinträchtigt wurde und somit neurologische Ausfallerscheinungen auftraten, die eventuell mit rituellen Handlungen in Verbindung standen.
Bei der 30- bis 40-jährigen Frau handelt es sich um eine grazile Person mit einer zeittypischen Körperhöhe von etwa 1,55 m. Neue genetische Untersuchungen zeigen, dass sie eine dunkle Hautfarbe, dunkle Haare sowie helle Augen, blau oder grün, hatte. Weitere genetische Untersuchungen konzentrieren sich auf den Säugling, der ein Alter zwischen sechs und acht Monaten erreichte. Insbesondere das Verwandtschaftsverhältnis der beiden ist hier von Interesse. Als ein erstes Ergebnis lässt sich eine direkte Verwandtschaft ersten Grades klar verneinen. Damit kann es sich nicht um das Kind der Schamanin handeln. Bemerkenswert am Skelett der Frau ist das Fehlen von deutlichen Muskelansätzen vor allem an den unteren Extremitäten, wie sie eigentlich häufig bei Jägern und Sammlern zu finden sind. Leichte Abnutzungserscheinungen im Bereich der Lenden- und Brustwirbelsäule verweisen auf eine gewisse körperliche Belastung des Rumpfes. Weitere krankhafte Veränderungen am Skelett finden sich an den zentralen Vorderzähnen des Oberkiefers. Hier liegt ein Zahnabschliff zum Gaumen hin vor, der so stark war, dass die Nervhöhlen der beiden Zähne äußerst schmerzhaft freigelegt worden sein müssen. Inwieweit eine Manipulation oder natürlicher Abschliff durch exzessiven Gebrauch der Vorderzähne als Werkzeug diesen Zustand herbeiführen konnte, wird derzeit untersucht.
Mittelsteinzeitliche Glaubenswelt
Baumaßnahmen für die im Kurpark von Bad Dürrenberg geplante Landesgartenschau machten es 2019 möglich, die 1934 entdeckte Grabgrube erneut zu untersuchen. Basierend auf der zwar spärlichen, aber präzisen Dokumentation konnte das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Sachsen-Anhalt mittels eines ersten Suchschnittes den damals angelegten Leitungsgraben ausfindig machen, der zur Entdeckung des Grabes vor über 80 Jahren geführt hatte. Aufgrund von Rötelresten und Einzelfunden mit Rötelanhaftung ließ sich der Grabgrubenbereich lokalisieren. Es bestätigte sich, dass die Bestattung in erheblichem Maße vom Eingriff in den 1930er-Jahren durch den Leitungsgraben und die Grabung gestört worden war, jedoch Bereiche vor allem des östlichen Teils der Grabgrube erhalten geblieben sein mussten. Über zwei Blockbergungen wurden die erhaltenen Teile der Grabgrube im Kurparkgelände entnommen, um später unter Werkstattbedingungen ausgegraben zu werden.
Während unter den mittlerweile über 1000 Neufunden eine Mehrzahl aus dem knapp 6 m langen Bereich des Leitungsgrabens kamen, konnten aus dem erhaltenen östlichen Teil der Grabgrube auch in-situ Funde geborgen werden. Für den Aufbau der Grabgrube konnte ein im Profil wannenförmiger oberer von einem schachtartigen unteren Teil unterschieden werden. Im unteren Bereich ließen sich die Reste eines im Grundriss rechteckigen Einbaus nachweisen, dessen nordöstliche Ecke noch rund 20 cm hoch erhalten war. Abdrücke von Hölzern geben Hinweise auf eine flechtwerkartige Konstruktion mit steilen Wänden, die mit einer Lehmauskleidung versehen und zur Wandung der Grabgrube hin mit Lehm hinterfüllt war. Ihre Grundfläche entspricht in Form und Ausrichtung der 1934 erfassten »Grabgrube«. Somit wurde seinerzeit nicht die Grabgrube selbst, sondern deren kammerartiger Einbau, in denen sich die Bestattung und das Grabinventar befanden, dokumentiert.
Bis heute sind durch die neuen Untersuchungen neben zahlreichen Tierzähnen (darunter durchbohrte und nicht durchbohrte Exemplare) auch vielfach neue Feuersteinartefakte, Menschenreste sowohl der Frau als auch des Säuglings und zahlreiche Faunenreste hinzugekommen. Neben einer Anzahl an neuen Tierknochen und weiteren Muschelschalen fallen insbesondere die vielen kleinstückigen Schildkrötenpanzerreste und eine neu entdeckte, winzige Schneckengattung, die mehr als 30-mal belegt ist, auf. Zum gegenwärtigen Stand der Bearbeitung zeigen alle Exemplare absichtliche Durchbohrungen im Nabelbereich des Gehäuses und Rötelspuren.
Als weitere große Neuentdeckung der Nachgrabung muss ein Grubenbefund ungefähr 1 m westlich der Grabgrube gewertet werden. Es handelt sich dabei um eine flache ovale Vertiefung, die zwei schädelechte Rothirschgeweihe (eines davon datiert auf 6400–6200 v.Chr.), eine als Arbeitsunterlage genutzte Sandsteinplatte wie auch zwei Steinartefakte hervorgebracht hat. Trotz eines schlechteren Erhaltungszustandes lassen sich teilweise Schnitt- und Zurichtungsspuren an den Schädelresten feststellen. In Verbindung mit der Präsenz von frontalen Schädelteilen, Rosenstöcken, Rosetten und Geweihresten zeigen beide Exemplare Parallelen zu Objekten, die insbesondere im Frühmesolithikum als Geweihkappen diskutiert werden.
Die deponierten Hirschmasken zeigen, dass das Grab im Kurpark über Jahrhunderte bis weiter in das Spätmesolithikum hinein in Erinnerung geblieben sein muss. Der Fundplatz von Bad Dürrenberg liefert damit erstmalig drei schädelechte Geweihe aus einem mittelsteinzeitlichen Grab- und Deponierungskontext und kann somit auf einen rituellen Gebrauch dieser Objekte sogar im Spätmesolithikum verweisen.
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