Von Jens Auer und Matthias Maluck
Wenn man den Blick über die scheinbar endlose Wasseroberfläche der Nord- oder Ostsee schweifen lässt, fällt es schwer sich vorzustellen, dass am Grund der deutschen Küstenmeere wahre archäologische Schätze schlummern. Doch bis vor etwa 10000 Jahren lag der Meeresspiegel erheblich tiefer als heute. Sowohl in der Nord- als auch in der Ostsee erstreckte sich nach der Eiszeit begehbares Gebiet, dessen steinzeitliche Bewohner vielfältige Spuren in der Landschaft hinterlassen haben. Doch der steigende Meeresspiegel nach der letzten Eiszeit ließ ebendiese Küstenlandschaften untergehen, sodass sie nun, häufig von jüngeren Sedimenten überdeckt, hervorragend bewahrt am Meeresgrund liegen.
Zudem zeugen Tausende in diesem Gebiet liegende Wracks, Wrackteile und Schiffsladungen von regem Handel wie auch von Auseinandersetzungen auf See. Das Spektrum reicht dabei von vorzeitlichen Einbäumen über hölzerne Handelsschiffe bis hin zu Schiffen und Flugzeugen, die während der beiden Weltkriege ihre letzte Ruhestätte vor den deutschen Küsten fanden.
Lange Zeit galten Wasserfahrzeuge als die fortschrittlichsten Fortbewegungsmittel ihrer Zeit, in denen sich das technische Know-how einer Gesellschaft widerspiegelt. Ein zu einem bestimmten Zeitpunkt mit Inventar und Ladung gesunkenes Wrack gleicht regelrecht einer Zeitkapsel, die einen bestimmten Moment in der Vergangenheit festhält. Aus diesem Grund kann es detaillierte Einblicke in Handelsbeziehungen und das soziale Gefüge an Bord liefern. In diesem Zusammenhang können selbst einzelne Ausrüstungsgegenstände, wie beispielsweise ein verlorener Anker, überaus wertvolle Hinweise auf maritime Praxis, Herstellungsverfahren oder Ereignisse in der Vergangenheit liefern.
Funde von Flugzeugwracks in Nord- und Ostsee stehen meist im Bezug zum Zweiten Weltkrieg. Auch wenn Abstürze häufig zu ausgedehnten Trümmerfeldern am Meeresgrund führten, bieten Flugzeugwracks oft Einblicke in technische Aspekte von Konstruktion und Einsatz. Sie legen aber auch ein beredtes Zeugnis vom Kriegsgeschehen ab.
Außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone
Während in den Küstenmeeren das Unterwasser-Kulturerbe durch die Denkmalschutzgesetze der Länder geschützt ist, gibt es in den Gewässern jenseits, also außerhalb der Zwölf-Meilen Zone, in der sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszone, allerdings noch keine vergleichbare Regel. Das liegt daran, dass Kultur – dazu gehören auch das Kulturerbe und die Archäologie – ausschließlich Sache der Länder ist. Somit hat der Bund hier keine gesetzliche Zuständigkeit. Zwar hat das Unterwasser-Kulturerbe inzwischen Eingang in eine Vielzahl an Richtlinien und Gesetzen gefunden, die dessen Schutz einfordern, aber diese gelten nur mittelbar und regeln keine Zuständigkeiten, Schutzgebiete, Verbote oder Genehmigungserfordernisse. Die Inkraftsetzung des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz des Unterwasser-Kulturerbes von 2001 durch Deutschland wäre hier ein bedeutender Fortschritt.
Alle Beiträge lesen in der AiD 5/22
- Kulturerbe in Nord- und Ostsee von Jens Auer und Matthias Maluck
- Aufnahmen aus der Tiefe von Ralph Behr
- Große Schaufeln und ein hölzernes Wrack – Begleitung von Offshore-Bauvorhaben von Jens Auer und Michal Grabowski
- Archäologie zwischen Ebbe und Flut von Marion Heumüller und Jan F. Kegler
- Lindwurm unter dem Sand – ein Schiff aus dem 17. Jh. von Stefanie Klooß
- Steinzeitliedlungen unter Wasser in Dänemark von Jørgen Spaanheden Dencker; übersetzt von Annine Fuchs
- Kulturerbemanagement auf dem Meeresgrund – Beispiel Niederlande von Martijn Manders; übersetzt von Michael Becker
- Rezepte für byzantinische Goldschmiede von Erica Hanning, Susanne Greiff, Günter Prinzing und Antje Bosselmann-Ruickbie
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Im Meer, wie längst auch schon an Land, werden über sogenannte Raumordnungspläne die Nutzungen der Meeresgebiete geregelt und konkurrierende Ansprüche ebenso wie Interessen abgewogen. So sollen etwa keine Offshore-Windanlagen in Schifffahrtsstraßen stehen. Auch Pipelines und Stromleitungen, Fischerei, Rohstoffabbau, Meeresforschung, Verteidigung und der Naturschutz wollen bedacht werden. Oft bekommen dann die jeweiligen Nutzungen sogenannte Vorranggebiete, in denen sie gegenüber anderen Interessen bevorzugt bzw. andere Aktivitäten ausgeschlossen werden. Archäologisches Kulturerbe findet sich bei all diesen Regelungen kaum wieder, denn wir kennen bisher nur einen Bruchteil der Fundstellen in den deutschen Meeren. Zumeist ist unklar, wo genau sich Wracks oder prähistorische Landschaftsreste befinden und wie gut erhalten bzw. bedeutsam sie sind. Die meisten Fundstellen sind schlicht unbekannt, Wracks sind verfallen und von Sediment bedeckt. Daher bleiben die Aussagen, was in einzelnen Gebieten zu erwarten ist, oft vage und eine klare Abgrenzung von archäologischen Fundplätzen ist kaum möglich.
Wie also schützt man »unsichtbares« und unbekanntes Kulturerbe? Mit der Ausweitung von Bautätigkeiten im Offshore- Bereich wird auch die Frage nach einem effektiven Schutz der submarinen Fundplätze immer relevanter. Der Schlüssel liegt hier in frühzeitigem Handeln und systematischem Vorgehen in den verschiedenen Planungs- und Bauphasen.
Erhalten oder bergen?
Ziel ist immer die Erhaltung des Bodendenkmals an Ort und Stelle und die Vermeidung von Eingriffen, die letztendlich eine Störung oder Zerstörung des Fundzusammenhangs und damit auch einen Informationsverlust bedeuten.
Daher sind die Denkmalschutzbehörden der Küstenländer bestrebt, mit Planern und Investoren frühzeitig ins Gespräch zu kommen. Es sollte von Beginn an klar sein, welche Arten von Unterwasser-Kulturerbe angetroffen werden können und wie in den Planungs- und Bauphasen mit archäologischen Fundstellen umzugehen ist.
Wie bei anderen Schutzgütern auch, müssen die möglichen Auswirkungen des geplanten Bauvorhabens auf das Unterwasser-Kulturerbe beschrieben und bewertet und notwendige Schutzmaßnahmen erläutert werden. Dabei ist es wichtig, alle Auswirkungen von Eingriffen zu bedenken. Auch Ausspülungen durch veränderte Strömungsverhältnisse an Fundamenten von Windrädern oder Leitungen können archäologische Fundplätze beschädigen.
Eine wichtige Rolle bei der Erfassung des Kulturerbes unter Wasser spielen archäologische Auswertung und Interpretation geophysikalischer und geotechnischer Daten. Schließlich können frühzeitig erkannte Fundstellen in die Planung nicht nur mit einbezogen werden, sondern auch von vornherein umgangen beziehungsweise, wenn nötig, durch archäologische Ausschlusszonen oder auch Abdeckungen geschützt werden. Ein erster Schritt ist dabei die Auswertung der vielfältigen Daten aus archäologischer Sicht, die etwa durch die Untersuchungen zu Munitionsvorkommen und zum Baugrund anfallen. Die Ergebnisse dieser Auswertung werden dann mit weiteren Quellen, wie Wrackregistern oder Verzeichnissen von Schiffsverlusten abgeglichen, um ein möglichst klares Bild der im Untersuchungsgebiet vorhandenen Fundstellen zu bekommen. Um Aussagen zu potenziellen Spuren urgeschichtlicher Besiedlung zu treffen, ist ein gutes Verständnis der geomorphologischen Entwicklung im Untersuchungsraum notwendig. Auch hier bilden geophysikalische und geotechnische Untersuchungen eine wichtige Grundlage.
Allerdings bleibt immer ein gewisses Restrisiko, während Voruntersuchungen oder Bauarbeiten auf unbekannte Fundstellen zu treffen. Ein Beispiel hierfür ist die Untersuchung der Kampfmittelverdachtspunkte durch Taucher, bei der sich magnetische Anomalien im Seegrund als archäologische Fundstellen erweisen können. Aber auch bei Baggerarbeiten kann es zu solchen Zufallsfunden kommen. Gerade wenn Eingriffe in den Boden vorgenommen werden, sollte daher eine Baubegleitung durch Archäologen erfolgen, um Fundstellen schnell erkennen zu können und notwendige weitere Schritte zu deren Schutz zu planen. Wichtig sind auch Ablaufpläne, die den Umgang mit archäologischen Zufallsfunden regeln und die rasche Einleitung von Maßnahmen zum Schutz der Denkmale erlauben.
Als letzte Möglichkeit kann, wie auch an Land, eine archäologische Ausgrabung oder Bergung erfolgen. Allerdings sind archäologische Ausgrabungen im Wasser häufig zeit- und kostenaufwendig. Da der Fundzusammenhang nach der Grabung unwiederbringlich verloren ist, ist eine sorgfältige Dokumentation der Fundstelle und der geborgenen Funde von äußerster Wichtigkeit. Auch der Verbleib des geborgenen Materials muss klar geregelt sein, denn die Konservierung von Nasshölzern und anderen Funden aus dem Meer ist zeitaufwendig und mit hohen Kosten verbunden.
Was also benötigen wir zum Schutz des »unsichtbaren« Kulturerbes? Die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Denkmalpflege in den Meeren sind eine frühzeitige Einbindung der archäologischen Fachbehörden in die Planung von Baumaßnahmen, ein offener und konstruktiver Dialog zwischen den Denkmalschutzbehörden, Vorhabenträgern und anderen Akteuren, professionelles Handeln und ein klares Verständnis der gegenseitigen Belange und Arbeitsweisen. Wichtig dabei ist, dass das archäologische Fachpersonal, sei es in der Baubegleitung oder als Taucher, problemlos in die Arbeitsabläufe vor Ort auf See eingebunden werden kann.
Neben der Weiterentwicklung der uns inzwischen zur Verfügung stehenden Dokumentations- und Visualisierungsmethoden, die das »unsichtbare« Kulturerbe immer sichtbarer machen, sollte daher auch die Aus- und Weiterbildung von Unterwasserarchäologen im Blickpunkt stehen.