Gabriel Zuchtriegel wurde im Februar 2021 aus zehn internationalen Kandidaten für den Posten des Direktors des Archäologischen Parks von Pompeji ausgewählt. Er wurde 1981 in Weingarten geboren und war der jüngste der Direktoren, die 2015 im Rahmen des ersten internationalen öffentlichen Auswahlverfahrens für Museumsdirektoren ernannt wurden. Damals übernahm er die Leitung des Archäologischen Parks von Paestum, später kam Velia hinzu. Wir hatten die Gelegenheit mit ihm über die neuen Funde in Civita Guliana bei Pompeji zu sprechen, die zuletzt im November 2021 durch den Fund einer ausgesprochen gut erhaltenen Sklavenunterkunft für Aufsehen gesorgt haben.
ANTIKE WELT: Wie haben Sie sich in Pompeji, dem Sehnsuchtsort der Archäologen, eingelebt?
Gabriel Zuchtriegel: Einleben ist vielleicht gar nicht der richtige Ausdruck, denn Pompeji ist wirklich ein Ort, der immer neu überrascht und an dem sich auch immer neue Herausforderung bieten: neue Grabungen, die Forschung, aber auch der Denkmalschutz, der ein großes Thema ist, und auch die Kommunikation mit den Besucherinnen und Besuchern. Pompeji ist ein Ort, an dem einem nie langweilig wird. Ein Leben im Sinne von «in eine Routine finden» ist für mich auch gar nicht das Ziel. Ich versuche auch meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mitzugeben, dass wir kreative, innovative Lösungen brauchen. Und gerade Pompeji ist ein Ort, an dem seit Beginn der Grabung viel Neues ausprobiert und entwickelt wurde. Ich denke, dass dies auch der richtige Weg für die Zukunft ist.
AW: Die Funde aus Pompeji spielen in den Medien immer eine gewaltige Rolle. Über die Entdeckung der Villa von Civita Giuliana wurde aber zunächst – vor der Entdeckung der Pferde und des Prunkwagens und nun der Sklavenunterkunft – kaum berichtet. Wie kam es zur Entdeckung der Villa?
GZ: Diese Frage berührt den Punkt der Komplexität Pompejis. Wir graben nicht einfach um des Grabens Willen, sondern versuchen darauf zu achten, dass wir bei solchen Projekten immer drei Aspekte kombinieren. Das ist zum einen die Forschung. Wir sehen uns selbst im Kern als eine Forschungseinrichtung, denn ein Museum, in dem keine Forschung stattfindet, hat keine Zukunft. Der zweite wichtige Punkt ist natürlich Denkmalschutz, denn wir wollen sowohl die bereits entdeckten Funde als auch die nicht untersuchten Bereiche bewahren. Der dritte Punkt betrifft die Zugänglichkeit für das Publikum. Alle Projekte versuchen immer diese drei Aspekte zusammenzuführen. Im Fall von Civita Giuliana wurde die ganze Grabung tatsächlich erst durch eine kriminalistische Untersuchung der örtlichen Staatsanwaltschaft angestoßen, denn in der Villa fanden über viele Jahre Raubgrabungen statt, die auch großen Schaden angerichtet haben. Es wurde eine Vereinbarung zwischen dem Archäologischen Park und der Staatsanwaltschaft geschlossen, dass man gemeinsam gegen solche Phänomene vorgeht. Dies führte zum einen zu diesen wirklich bedeutenden Entdeckungen und zum anderen zur Erkundung dieser Villa, deren archäologisches Potential, – auch während erster Grabungen im 20. Jh. – nicht klar war. Dadurch entstand letztendlich die Perspektive, dass dieser Ort in Zukunft für die Besucherinnen und Besucher zugänglich sein soll und nicht nur für Archäologinnen und Archäologen interessant ist.
AW: Wie plant man eine so komplizierte Grabung?
GZ: In diesem Fall ist es wirklich nicht einfach, denn die Villa liegt teilweise auf Privatgrundstücken, die von uns temporär okkupiert werden. Die Besitzer werden dementsprechend auch entschädigt. Wir haben jetzt angefangen, dort eine Reihe von Enteignungen einzuleiten, auch natürlich mit der Perspektive, dass man den Ort irgendwann als Teil des Archäologischen Parks zugänglich machen kann. Zudem führt eine Straße über das Gelände der Villa, die es in zwei Teile teilt, und natürlich stehen dort auch Häuser. Insofern können wir nur bis zu einem gewissen Grad planen, und oft hängt es dann auch davon ab, was unsere Grabungen ans Licht bringen. Dies beeinflusst dann wieder die weitere Strategie und Vorgehensweise. Deshalb sind wir flexibel und können unser Vorgehen entsprechend neuer Funde oder Inputs, die von der Staatsanwaltschaft kommen, die die strafrechtlichen Untersuchungen führt, angleichen.
AW: Wie sieht der Alltag vor Ort aus? Und arbeiten dann wirklich Archäologen und die Kriminalisten der Staatsanwaltschaft auf der Grabung zusammen?
GZ: Natürlich sind unsere Fachkräfte – Archäologen, Architekten, Grabungsarbeiter – vor Ort, aber es sind auch oft unsere Restauratorinnen und Restauratoren und unser Laborpersonal für Bergungen und Analysen dort. Zudem sind die Behörden, wie die Staatsanwaltschaft oder die Denkmalschutzpolizei – das Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale – nicht täglich, aber häufig präsent, mit denen wir die Lage regelmäßig absprechen und die uns tatkräftig unterstützen.
AW: Was sind die Indizien, die zur Identifizierung des neuen Raums als Sklavenunterkunft führten?
GZ: Es handelt sich um einen sehr kleiner Raum, ca. 16 m2, der sich in der Nähe des Stalls bzw. in einem Wirtschaftsbereich der Villa befindet. Dieser Raum füllte sich mit heißer Asche, die aushärtete. Die Objekte aus Holz oder anderem vergänglichen Material, die heute nicht mehr erhalten sind, haben einen Hohlraum in der Asche hinterlassen, der mit Gips ausgegossen werden konnte. So erhält man dann den Abdruck, der erstaunliche Details zum Vorschein bringt. Diese Methodik konnten wir in dem kleinen Raum besonders gut anwenden, weil die Bedingungen günstig waren. Neben einem kleinen Fenster enthielt der Raum drei primitive Betten – eher Pritschen – aus zusammengesteckten Holzteilen: zwei davon 1,70 m lang, also für Erwachsene geeignet, und eins 1,40 m, also vermutlich für ein oder mehrere Kinder. Das Kinderbett konnte man auch entsprechend verlängern, indem man die Längsteile austauschte. Zudem fanden wir unter den Betten einige wenige persönlich Gegenstände wie einen Wasserkrug, einen Nachttopf und einen Behälter für Kleidung. Gleichzeitig diente dieser Raum aber auch als Abstellkammer oder als Magazin: In den Ecken standen mehrere Amphoren, in der Raummitte eine Truhe mit Zaumzeug und anderen Objekten, die sicherlich mit dem Prunkwagen in Zusammenhang stehen, der Anfang 2021 in derselben Villa gefunden wurde und der sich direkt vor der Tür befand. Zudem lehnte an einem der Betten eine Deichsel, deren ausgeprägte Details uns auch einen Hinweis auf ihre Konstruktion geben und die wahrscheinlich auch in Verbindung zum Prunkwagen steht. Die Wände waren ohne jeglichen Dekor. Wir erhalten also einen erstaunlichen Einblick in das prekäre Leben dieser Menschen, die offensichtlich zur untersten Schicht gehörten. Wir haben einen Einblick in eine Realität − eine Lebenswelt −, die von den Schriftquellen relativ wenig beleuchtet wird und dann aber auch nur aus der Perspektive der Elite und die archäologisch schwer fassbar ist. Diese Objekte sind normalerweise nicht erhalten.
AW: Somit gibt es eigentlich keine archäologischen Vergleichsbeispiele für eine Sklavenunterkunft, sei es am Golf von Neapel oder im ganzen Römischen Reich?
GZ: Konkrete Beispiele gibt es wirklich wenige. Wir haben uns auch noch mal die Betten angeschaut, die man in Pompeji und Herculaneum gefunden hat. In Herculaneum gibt es ein ganz interessantes Haus, die Casa del Gratticio, in dem auch ein relativ kleiner Raum gefunden wurde, der Wandmalerei und zwei Betten aufweist. Da das Leben dort relativ beengt war, lebte dort sicherlich keine besonders reiche Familien. Jedoch unterscheiden sich die zwei Betten, deren verkohlte Überreste erhalten sind, von denen aus der Villa von Civita Giuliana, denn sie sind aus Brettern gezimmert, stabil und haben auch wenige Schmuckelemente. So sieht man auch an den Objekten in dem neu gefundenen Raum, dass es sich wirklich um die unterste soziale Gruppe dieser Gesellschaft handelte.
AW: Sind an den gefundenen Gegenständen, die nicht nur ausgegossenen, sondern auch tatsächlich erhalten sind, weitergehende naturwissenschaftliche Untersuchungen geplant?
GZ: Wir haben damit sogar schon begonnen und wollen vor allem die Reste in den Amphoren im Labor als sog. Mikrograbungen untersuchen, um eventuelle organische oder andere kleine Einsätze genau zu dokumentieren. Es ist zudem geplant, den Ton mit Hilfe einer Gaschromatographie zu untersuchen, um daraus Rückschlüsse auf den Inhalt der Gefäße zu ziehen. Die erhaltenen Holzreste (z. B. von der Truhe in der Raummitte) werden ebenfalls analysiert. Zudem haben wir etliche Textilreste gefunden, so z. B. die Seile, die als Lattenrost für die Betten dienten, und Tücher, die darüber anstelle einer Matratze lagen. Neben deren Abdrücken befanden sich in der Truhe auch Stoffreste sowie Metallobjekte und auch Leder, die ebenfalls analysiert werden.
AW: Gibt es bereits Pläne für die nächsten Schritte? Ist eine ganzjährige Ausgrabung vorgesehen oder wird in Kampagnen gegraben?
GZ: Die Arbeiten gehen weiter. Wichtig ist auch, dass unsere bisherigen Funde denkmalpflegerisch gesichert werden. Es werden Ausgrabungen, eingeteilt in Komplexe, stattfinden. Wir versuchen, keine längeren Pausen zwischen den Ausgrabungen zu haben, um Präsenz zu zeigen und somit mögliche weitere Plünderungen zu vermeiden. Dadurch möchten wir auch ein Zeichen setzen, denn wir glauben fest daran, dass die Villa eine Perspektive hat, eine interessante Ergänzung zum Besuch der Stadt Pompeji zu werden. Denn auch das dazugehörige Umland gehört dazu, wenn man die Geschichte der Stadt wirklich verstehen möchten.
AW: Welche Reaktionen gab es aus der örtlichen Gemeinde, die immer im Schatten von Pompeji stand?
GZ: Die Reaktionen sind natürlich auch abhängig von uns. Wir müssen uns als Archäologen − und sowieso generell − immer damit auseinandersetzen, was eigentlich unsere Botschaft und unser Beitrag zur Gesellschaft ist, die uns unterstützt und finanziert und so die Arbeit eigentlich erst ermöglicht. Im Fall der Villa von Civita Giuliana müssen wir unsere Ergebnisse so darstellen und so erzählen, dass wir die Wichtigkeit dieses Orts sofort an ein breites Publikum vermitteln können und somit auch die Leute vor Ort direkt auf unserer Seite haben, wenn wir in Zukunft versuchen werden diesen Bereich an unserem Park anzugliedern. Insofern helfen uns natürlich solche spektakulären Entdeckungen, wie es auch der Prunkwagen war, sehr gut dabei zu erklären, welche langwierigen und sehr komplexen Arbeiten wir Tag für Tag verrichten.
Das Gespräch mit Gabriel Zuchtriegel führte Holger Kieburg.