Dr. Marie Luisa Allemeyer ist seit Mai 2013 Direktorin der Zentralen Kustodie der Universität Göttingen und Projektleiterin des Forum Wissen. Gemeinsam mit ihrem Team, dem Ausstellungskurator Joachim Baur (Berlin) und den Ausstellungsgestaltern Atelier Brückner (Stuttgart) hat sie das Konzept des neuartigen Wissens-Museums entwickelt und umgesetzt. Die Historikerin hat an den Universitäten Göttingen und Granada studiert. Sie promovierte 2006 am Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen und der Universität Kiel zu einem mentalitäts- und umweltgeschichtlichen Thema und war 2012 an der Jubiläumsausstellung der Universität Göttingen „Dinge des Wissens“ beteiligt.
Der Startschuss für ein neues Museum in Göttingen liegt bereits über 10 Jahre zurück. Waren Sie von Beginn an in das Projekt eingebunden? Welche Meilensteine waren auf dem Weg bis zur Eröffnung für Sie besonders wichtig?
MLA: Ja, ich war tatsächlich von Anfang an an der Konzeptentwicklung des Forum Wissen beteiligt – genau genommen schon rund zwei Jahre bevor ich Direktorin der Zentralen Kustodie und Projektleiterin des Forum Wissen wurde. Die wichtigsten Meilensteine bestanden aus meiner Sicht immer darin, wenn es uns gelang, wieder eine der durchaus gravierenden finanziellen Hürden zu nehmen.
Die Weiterentwicklung des Konzepts war natürlich intellektuell viel attraktiver: Wir haben uns drei, vier Jahre auf den spannendsten Tagungen, Workshops und in Netzwerken ausgetauscht. Wir haben Ideen gesammelt und verworfen und das Konzept immer besser ausgefeilt. Aber Meilensteine auf dem Weg zur Eröffnung des Forum Wissen waren: Der Beschluss des Landes Niedersachsen, den Aufbau der Zentralen Kustodie und die Erschließung der Sammlungen mit insgesamt 1 Mio € zu fördern. Dann der Erfolg, für die Sanierung des Gebäudes und die Ausstellung des Forum Wissen insgesamt rund 16 Mio € eingeworben zu haben. Und schließlich von Bund und Land eine Förderung fünfjährigen Pilotphase in Höhe von 8 Mio € zu erhalten.
Das Forum Wissen verfolgt mit seinem Konzept, ein Zentrum für interdisziplinäre Forschung und Lehre als auch ein Museum über das „Wissen schaffen“ zu sein, gleich zwei Ziele. Welches ist Ihrer Meinung nach das stärkste Mittel um die beiden Ziele zu erreichen?
MLA: Ich kann die Frage sehr umfassend beantworten: Das Stärkste Mittel ist aus meiner Sicht immer, wenn wir als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen uns in die Karten schauen lassen und andere dazu motivieren, das auch zu tun. Der Gewinn, der sich durch interdisziplinäres Arbeiten erzielen lässt, liegt ja grade darin, dass ich zusätzlich zu meinen Methoden, Fragestellungen und Vorgehensweisen auch die anderer Disziplinen und Wissenskulturen kennenlerne und – idealerweise – für mich fruchtbar machen kann. Wenn ich mir also in die Karten schauen lasse und meine Kooperationspartner das auch tun, erweitern sich unsere Erkenntnismöglichkeiten.
Und dasselbe gilt ja in der Begegnung und im Austausch mit Menschen die nicht in der Wissenschaft arbeiten. Wenn ich solchen Menschen ermögliche, zu verstehen, wieso ich in bestimmter Weise arbeite, bringe ich sie in die Lage, mit mir in Austausch zu treten. Wir können uns gegenseitig anregen und weiter bringen. Für mich liegt hier ein wesentlicher Kern unseres Konzepts. Wenn Wissenschaftler:innen nachvollziehbar machen wie und warum sie so vorgehen, wie sie es tun, öffnen sie einen Raum für Nachfragen, Diskussionen – ja durchaus auch für Kritik. Sie schaffen damit aber auch eine Basis für einen tatsächlich multilateralen Austausch und ein gegenseitiges Vertrauen. Darin liegt aus meiner Sicht das große Surplus das wir im Forum Wissen ermöglichen.
Spricht die Ausstellung eher eine universitär geprägte Zielgruppe an, oder findet jeder einen Zugang?
MLA: Die Ausstellung richtet sich an alle Menschen, deren Leben durch die Wissenschaft geprägt wird – und das ist natürlich jeder und jede! Uns ist bewusst, dass längst nicht jeder Mensch das von sich sagen würde. Aber grade darum geht es uns ja: in eingängiger Weise zu zeigen, dass Wissenschaft unser aller Leben beeinflusst und dass wir alle etwas damit zu tun haben.
Welche Möglichkeiten haben die Besucher:innen die Ausstellung zu erleben? Welche Mittel kommen hierfür zum Einsatz und welches sind für Sie die Herausforderungen dabei?
MLA: Die erste ist das „Herumstromern“. Es ist im Grunde die ganz klassische, völlig unberechenbare, weitgehend analoge Art, die Ausstellung zu genießen. Sie stromern einfach hindurch, wie Sie es immer in Museen tun. Entweder sind Sie der Typ, der jeden Text liest, oder Sie picken sich heraus, was Ihnen ins Auge fällt, überspringen mal einen Raum oder bleiben an einem Exponat „hängen“ bis das Haus geschlossen wird. Uns war es ganz wichtig, dass den stromernden Besucher:innen möglichst viel geboten wird, damit sie ihren Museumsbesuch völlig selbst bestimmt so genussvoll und anregend gestalten können, wie sie möchten, ohne dass es heißt: „Ja, Sie haben ja die App nicht benutzt – das war so nicht vorgesehen“.
Aber natürlich haben wir eine App! Und sie ist die Basis für die zweite Art, die Ausstellung zu besuchen: Mithilfe eines mobilen Gerätes (Ihres eigenen oder eines Leihgerätes) können Sie beim Durchstreifen der Ausstellungsräume Exponate digital sammeln, in andere Räume mitnehmen und an so genannten „Methodentischen“ etwas mit diesen Objekten tun. Dabei geht diese „Aktivierung“ der Objekte über den reinen Spielcharakter hinaus. Uns geht es darum, zu zeigen: Jedes wissenschaftliche Objekt oder jedes Exponat in einem Museum steht in einem bestimmten Kontext. Wenn ich es von dort mitnehme und in einen anderen Kontext stelle, verändert es seine Rolle, seine Bedeutung, wird in anderer Art und Weise „lesbar“. Diese digitale Ebene des Forum Wissen ermöglicht es uns, zusätzlich zu den Informationen, die Sie innerhalb der Ausstellungsräume zu den einzelnen Objekten erhalten, weitere Informationsebenen anzubieten und Verknüpfungen herzustellen, die sich analog kaum nicht herstellen ließen.
Die dritte Möglichkeit, sich die Ausstellung zu erschließen, bieten uns die „Thementouren“. Wenn Sie sich beispielsweise für das Thema „Frauen in der Wissenschaft“ oder „Kolonialismus“ interessieren, navigiert Sie das mobile Gerät gezielt durch die Ausstellung und zu einer Reihe von Objekten, die unter diesem Gesichtspunkt miteinander verknüpft sind. Für uns sind diese Thementouren eine unerschöpfliche Möglichkeit, in Zukunft immer weitere, neue Narrative in die Ausstellung zu legen. Dieses dürfte die „Haltbarkeit“ der Ausstellung erheblich verlängern, da wir neue Themen, Paradigmenwechsel und Diskurse dynamisch aufnehmen können, ohne die Ausstellung grundsätzlich für obsolet erklären zu müssen.
Die digitale Ebene schafft uns übrigens noch einen weiteren erheblichen Vorteil, den ich kurz erwähnen möchte: Neben der durchgehenden Zweisprachigkeit, die Sie in den gedruckten Texten der Ausstellung finden (deutsch und englisch), können Sie auf dem mobilen Gerät Übersetzungen der Raum- und Objekttexte in Deutsche Gebärdensprache und Einfache Sprache abrufen. Und auch hier gibt es natürlich unendliche Erweiterungsmöglichkeiten, weitere Sprachen anzubieten.
Wissen ist in ständigem Wandel und so soll es auch die Ausstellung im Forum Wissen sein. Wie kann man sich diesen Wandel praktisch vorstellen? Können Besucher quasi jeden Monat eine neue Ausstellung entdecken?
MLA: Das Fundament des Forum Wissen bildet ja die „Basisausstellung“ (1400 qm), die wir absichtlich nicht „Dauerausstellung“ nennen, weil sich auch in dieser Ausstellung ständig etwas verändern wird. Das ist keine fixe Idee von uns gewesen, sondern das geht ja bei einem so dynamischen Thema wie der Wissenschaft schlicht nicht anders.
Fast jeder Ausstellungsraum hat eine „Freifläche“ – das sind Vitrinen, deren Inhalt kontinuierlich ausgetauscht wird. Zwar wird es dabei immer um das Grundthema des jeweiligen Raumes gehen. Aber auf diese Weise können wir immer wieder neue Beispiele, neue Facetten oder auch neue Fragestellungen und Forschungsprojekte in die Basisausstellung einbinden. Außerdem gibt es im Forum Wissen noch zwei Sonderausstellungsflächen: Den so genannten „Freiraum“ (80 qm) in dem kleinere, durchaus experimentelle – auch studentische – Ausstellungen gezeigt werden können und eine Sonderausstellungsfläche (260 qm), für große Ausstellungen, die mal aus der Universität heraus entwickelt sein können, mal gemeinsam mit Kooperationspartnern oder auch mal Wanderausstellungen sein können.
Wir haben im Forum Wissen also drei „Wechselformate“. Dieses in Verbindung mit den oben genannten Möglichkeiten, die uns die digitale Ebene für stetigen Wechsel und Erweiterungen bietet, macht mich zuversichtlich, dass sich Besucher:innen bei jedem Besuch des Forum Wissen immer wieder auf Neues freuen können.
Gab es für Sie rückblickend ein Ereignis im Projekt, das Sie besonders geprägt / beeindruckt hat?
MLA: Ja, allerdings war das nicht ein einzelnes Ereignis, sondern eher eine Entwicklung: Die Konzeptentwicklung des Forum Wissen fand ja nicht in einem Rutsch statt. Wir haben „am Grünen Tisch“ angefangen, das Konzept dann aber auf sehr vielen Tagungen vorgestellt, Gesprächspartner gesucht, Allianzen geschmiedet. Das war notwendig, weil das Geld ja nicht einfach vom Himmel fiel, wie wir das am Anfang gehofft hatten.
Das Konzept ist in den letzten Jahren ziemlich durch den Scheuersack gegangen, aber im Zuge dessen auch immer besser, immer zeitgemäßer und schließlich sogar modellbildend geworden. Während dieses Prozesses konnten wir Unterstützer gewinnen, die uns mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung, ihrem Engagement und durchaus auch ihren Gestaltungsmöglichkeiten kraftvoll unter die Arme gegriffen haben. Das ist für mich eigentlich das Beeindruckende gewesen: Dass wir beispielsweise für unseren Externen Wissenschaftlichen Beirat zwölf höchst renommierte und erfahrene Experten gewinnen konnten, die uns klug und versiert Hinweise geben konnten, „wo der Hase grade läuft“, oder dass Thomas Oppermann sich in einer der schwierigsten Situationen ins Geschirr geworfen hat, um die fehlenden Mittel für den Betrieb des Forum Wissen von Bund und Land zu beschaffen. Oder auch dass es einen Förderkreis gibt, dessen Mitglieder das Forum Wissen finanziell unterstützen und ihre Begeisterung für die Öffnung der Wissenschaft in die Gesellschaft verbreiten.
Das Forum Wissen war nie das Projekt einer einzigen Person – es ist in zahlreichen Köpfen entstanden, durch unzählige Hände gestaltet und es wird von sehr vielen Schultern getragen. Diese Entwicklung hat mich zutiefst geprägt und motiviert, selber auch so viel wie möglich dazu beizutragen, dass die Arbeit und das Engagement dieser Vielen in einem echten Leuchtturmprojekt aufgeht.