Die Himmelsscheibe von Nebra – ­eine Gebrauchsanleitung

Die Goldeinlagen auf der bronzenen Himmelsscheibe von Nebra aus der Zeit um 1600 v. Chr. bilden astronomische Phänomene ab – soviel man weiß, weltweit die älteste Darstellung dieser Art. Doch welchem Zweck diente das?

Die Himmelsscheibe von Nebra
© Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Juraj Lipták/L2M3 Kommunikationsdesign

Von Alfred Reichenberger und Jan-Heinrich Bunnefeld

Es waren immer die Mächtigen in der Weltgeschichte, die versuchten, die Regeln der Zeit zu erkennen und sich damit Möglichkeiten zu verschaffen, andere Menschen zu manipulieren und zu beherrschen. Dies gilt für die Herrscher des Alten Orients und Ägyptens ebenso wie für die chinesischen Kaiser. Und keine Geringeren als Julius Caesar oder Papst Gregor XIII. reformierten die zu ihrer Zeit (46 v. Chr. bzw. 1582) aus dem Takt geratenen Kalender.

Mit den Fürstengräbern der Aunjetitzer Kultur (2200 – 1550 v. Chr.) werden zum ersten Mal in der mitteleuropäischen Vorgeschichte regelrechte Herrscher und immense soziale Unterschiede fassbar. Und so ist es wenig verwunderlich, dass ausgerechnet aus dieser Zeit die weltweit ältesten Darstellungen konkreter Himmelsphänomene stammen. Abgebildet ist dies auf der Himmelsscheibe von Nebra, jener 2,2 kg schweren Bronzescheibe mit Goldauflagen, die 1999 von Raubgräbern gefunden und später von der Polizei sichergestellt werden konnte. Seit 2013 ist die Himmelsscheibe in das UNESCO-Weltdokumentenerbe (»Memory of the World«) aufgenommen.

Die Schaltregel auf der Himmelsscheibe ermöglichte es, das Sonnenjahr mit dem kürzeren Mondjahr in Einklang zu bringen.
Die Schaltregel auf der Himmelsscheibe ermöglichte es, das Sonnenjahr mit dem kürzeren Mondjahr in Einklang zu bringen. Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, L2M3 Kommunikationsdesign

Auf der Himmelsscheibe ist das Wissen mehrerer Generationen vereint. Ihr Bildprogramm wurde mehrfach umgestaltet. Die erste Phase zeigte eine Anleitung zur Verschaltung von Mond- und Sonnenjahr. Damit wurde ein Problem gelöst, das die Menschen bis heute beschäftigt.
Die ältesten Kalender waren Lunarkalender: Sie beruhten auf der Abfolge von Mondzyklen. Die Beobachtung der Mondphasen ist einfach. Jedermann kann sie mit bloßem Auge erkennen. Als üblicher Zählbeginn gilt der Neumond, die Phase, in der der Mond nicht zu sehen ist. Ein neuer Monat beginnt, wenn eine schmale junge Mondsichel, das sogenannte Neulicht, erstmalig am Abendhimmel zu sehen ist. Nach zwölf Neulichten oder 354 Tagen fängt dann ein neues Mondjahr an.

Weitaus schwieriger ist die Beobachtung des Sonnenjahres. Ein Umlauf der Erde um die Sonne beträgt etwa 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 45 Sekunden, wie wir heute wissen. Abgerundet sind das 365 Tage. Das Sonnenjahr ist damit um elf Tage länger als der Mondkalender. Um Mond- und Sonnenjahr im Verlauf der Jahreszeiten im Einklang zu halten, war es daher notwendig, in den Mondkalender zusätzliche Monate oder Tage einzufügen. Wann dies zu geschehen hatte, wurde erstmals auf der Himmelsscheibe von Nebra dargestellt.

Schlüssel zum Verständnis: die Plejaden

Die erste Phase der Himmelsscheibe zeigte den Nachthimmel mit 32 Sternen sowie einen Sichelmond und Sonne oder Vollmond. Die Anordnung der Sterne ist willkürlich und folgt keinem erkennbaren Muster – etwa nach Art unserer heutigen Sternbilder. Lediglich eine auffällige Gruppe von sieben rosettenförmig angeordneten Sternen wird von Astronomen als das Sternbild der Plejaden identifiziert. Obwohl deren tatsächliche Zahl sehr viel größer ist, sind mit bloßem Auge meist nur sechs Sterne erkennbar. Gleichwohl sind die Plejaden in vielen Kulturen als »Siebengestirn« bekannt, so in der griechischen Mythologie als die »Sieben Töchter des Atlas«. Oft werden sie ähnlich dargestellt wie auf der Himmelsscheibe von Nebra – vielleicht ist die Siebenzahl auch nur ein Symbol für »viele«, denn bei mehr als vier Gegenständen kann der Mensch ihre Anzahl nicht mehr mit einem Blick erfassen, sondern muss nachzählen.

Für die Entschlüsselung der Schaltregel lieferten die Plejaden in Kombination mit dem Sichelmond einen entscheidenden Hinweis. So folgerten Astronomen aus der Darstellung der Sichel, dass es sich um einen mehrere Tage alten zunehmenden Mond handelt, dessen Erscheinen bei den Plejaden für die Eingeweihten das Signal zur Einfügung eines Schaltmonats war. Schriftlich wird diese auf der Himmelsscheibe von Nebra codierte Schaltregel erst sehr viel später im »MUL.APIN« fassbar, einem Keilschrifttext des 8. / 7. Jh. v. Chr. Die ursprüngliche Datierung der Keilschrifttafeln – der meistkopierte sternenkundliche Text Mesopotamiens – dürfte jedoch schon in die zweite Hälfte des 2. Jt. v. Chr. fallen. Die dort fixierte Regel besagt: Steht im Frühlingsmonat eine schmale Mondsichel bei den Plejaden, sind Mond- und Sonnenjahr im Takt, steht eine ungefähr 4,5 Tage alte Mondsichel bei den Plejaden, muss ein Schaltmonat eingefügt werden. Dies ist alle drei Jahre der Fall. Es ist möglich, dass das astronomische Wissen der Aunjetitzer Fürsten ursprünglich aus dem Vorderen Orient stammt. Doch der Nachweis auf der Himmelsscheibe ist deutlich älter als diese Schriftquelle.

Viele Kulturen verbinden darüber hinaus mit der letztmaligen Sichtbarkeit der Plejaden im Frühjahr den Beginn der Aussaat. Bereits bei Hesiod findet sich um 700 v. Chr. ein entsprechender Hinweis, ebenso aber auch noch in litauischen Bauernregeln der jüngsten Vergangenheit.
Doch die Nebra-Scheibe birgt noch weitere astronomische Kenntnisse. So könnten die 32 Sterne als Symbole für 32 Sonnenjahre stehen, die ihrerseits genau 33 Mondjahren entsprechen. Bei dieser von Rahlf Hansen vorgeschlagenen Interpretation wäre der große goldene Kreis dann als 33. Stern und wie ein Vexierbild gleichzeitig als Sonne und als Mond zu sehen.

Die Himmelsscheibe wurde im Laufe der Zeit mehrfach umgestaltet, ganz links die älteste Version: Astronomisches Wissen wurde nur in den ersten beiden Ausgestaltungsphasen kodiert.
Die Himmelsscheibe wurde im Laufe der Zeit mehrfach umgestaltet, ganz links die älteste Version: Astronomisches Wissen wurde nur in den ersten beiden Ausgestaltungsphasen kodiert. Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Klaus Pockrandt

Das Wissen um die Abweichung des Mondjahres von dem der Sonne ist uralt. Gleichwohl sahen und sehen nicht alle Kulturen die Notwendigkeit, dies auszugleichen. So ist etwa der islamische Kalender ein reiner Mondkalender, weswegen sich der Fastenmonat Ramadan durch das Jahr bewegt.
Die erste Ausgestaltungsphase der Himmelsscheibe war sicherlich die komplizierteste. Doch auch in der zweiten Phase wird noch astronomisches Wissen angezeigt. Zwei seitliche Goldbögen, von denen nur einer erhalten ist, haben einen Winkel von etwa 82 Grad und markieren den Horizontdurchlauf der Sonne in den Breiten Mitteldeutschlands zwischen Sommer- und Wintersonnenwende. Sie erlauben eine zwar nicht taggenaue, doch ungefähre Orientierung im Jahresablauf.

Die zum Teil durch die Horizontbögen überdeckten Sterne der Phase 1 belegen, dass das alte Wissen nun nicht mehr gefragt oder vergessen war. Die späteren Ausgestaltungen der Himmelsscheibe schließlich zeigen gar kein astronomisches Spezialwissen mehr. Ihre Veränderungen sind religiöser und kultischer Natur. Doch dies ist eine andere Geschichte.

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