Von Annette Frölich; übersetzt von Annine Fuchs. Titelbild: Drei zu Tabletten komprimierte und von verschiedenen Herstellern gesiegelte Heilerde-Tabletten aus Deutschland, 16. bis 17. Jh. Creative Commons At.
Grabungen in Hoby auf der dänischen Insel Lolland brachten im Jahr 1920 zwei Silberbecher aus der römischen Eisenzeit hervor. Diese waren mit Szenen aus der Ilias verziert, darunter einer Darstellung des homerischen Helden Philoktet, der auf der Überfahrt nach Troja von einer Giftschlange gebissen worden war und von seinen Gefährten auf die Insel Lemnos gebracht wurde, weil sie seine Schmerzensschreie und den Gestank der Wunde nicht mehr ertrugen. Den Überlieferungen zufolge gab es dort eine spezielle Behandlung für Schlangenbisse, und zwar mit Terra sigillata – einer Tonerde, die seit mehr als 2000 Jahren zur Wundbehandlung und als Medizin verwendet wird.
Während sich die Bezeichnung Terra sigillata heute auf Tafelgeschirr aus der Römischen Kaiserzeit bezieht, war damit im Mittelalter in Tablettenform gepresste und gesiegelte Heilerde gemeint – auch bekannt als Siegelerde, Bolus oder Bolus Armenius. Diese gab es in den verschiedensten Varianten. Hergestellt wurden sie trotz unterschiedlicher Konsistenz und Farbe aus einer Tonerde, die nur an bestimmten Orten in Europa, insbesondere im Mittelmeerraum, vorkommt.
Tatsächlich geht die Verwendung von Heilerde als Medizin weit zurück, denn schon die bedeutendsten Ärzte des Altertums schätzten Terra sigillata sehr. So löste beispielsweise Hippokrates von Kos (466–377 v. Chr.) einen speziellen Ton von der griechischen Insel Samos in Wasser auf und setzte ihn als Heilmittel ein. Ähnlich verfuhr im 1. Jh. n. Chr. auch der griechisch-römische Arzt und Pharmakologe Dioskurides, indem er Lemnische Erde in Wein aufgelöst gegen Vergiftungen, giftige Bisse und Stiche sowie gegen Durchfallerkrankungen einsetzte. Darüber hinaus verwendete Dioskurides ebenfalls ägyptische Tonerde zur Behandlung von Wunden. Seine pharmakologischen Lehrbücher wurden in Europa bis in die 1700er- und 1800er-Jahre verwendet. Auch der vorwiegend in Rom tätige Arzt und Anatom Galen (ca. 129–215) aus Pergamon interessierte sich für Tonerde als Medizin. So besuchte er die Insel Lemnos, um die Herstellung von Terra sigillata zu studieren. Er berichtet, dass dort der rötliche Ton im Rahmen einer Zeremonie am Berg Moschylos ausgegraben und zum Tempel gebracht wurde, wo dieser, um Verunreinigungen zu beseitigen, in Wasser eingeweicht und dann in Tabletten geformt getrocknet wurde. All diese Stücke waren zudem mit einem Siegel gestempelt, um ihre Echtheit als heiligen Ton, »TERRA SIGILATA«, zu dokumentieren. Als Galen im Jahr 168 auf Bitten des römischen Kaisers Marcus Aurelius nach Aquileia reiste, wo unter den Soldaten des Heeres eine Seuche ausgebrochen war, brachte er 20000 ebendieser Tabletten von Lemnos mit.
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Steigende Nachfrage – blühender Markt
Im Mittelalter verwendete der arabische Arzt Avicenna (980–1037) Terra sigillata mit denselben medizinischen Indikationen wie Galen. Auch isländische Quellen wie das »Úr Lækningabók« aus dem 13. Jh. erwähnen Terra sigillata als Mittel gegen Wurmbefall und Vergiftungen. Indessen wurde unter dem Namen Pauls Erde nun auch Heilerde aus Malta importiert. Die daraus hergestellten Tabletten und mit einem Stempel versehenen Krüge werden von dem dänischen Arzt Ole Worm (1588–1654) in seinem Werk »Wormianum« so genau beschrieben und abgebildet, dass das British Museum eine Scherbe eines Kruges als aus Malta stammend identifizieren konnte.
In der Renaissance ist Terra sigillata schließlich ein so beliebtes Mittel gegen Gift, dass der französische Naturforscher und Botaniker Pierre Belon 1553 nach Lemnos reist, um dort der Herstellung beizuwohnen. Ganze 1500 Jahre nach Galen beschreibt Belon eine ähnliche Zeremonie bei der Ausgrabung, die am 6. August stattfindet. Die fertigen Tabletten werden in Säcke verpackt, die versiegelt und mit dem Stempel »Tin Imacton« versehen werden, was »versiegelte Erde « bedeutet. Die gesiegelte lemnische Erde genoss ein so hohes Ansehen, dass der Bedarf daran während der Renaissance enorm anstieg. Daher wurde fortan auch anderenorts nach Tonerden gesucht. Schon bald erreichten auch Heilerden aus Herstellungsorten außerhalb des Mittelmeerraums – insbesondere aus Schlesien und Sachsen – eine große Bekanntheit.
Die deutschen Ärzte Paracelsus (1493–1541) und Georg Agricola (1494–1555) verordneten häufig Terra sigillata und verbreiteten damit die Verwendung von Siegelerde weiter. Hier erlaubte Graf Wolfgang II. von Hohenloe die Verwendung erst, nachdem sein Sohn Georg Friedrich von Hohenloe und Langenburg zusammen mit dem Doktor für Pysik Georg Pistor und dem Hofapotheker Johan Lutzen ein »wissenschaftliches« Experiment durchgeführt hatte: Vier Hunden wurde Gift verabreicht, sie starben; vier anderen Hunden wurde das gleiche Gift und Terra sigillata verabreicht, sie überlebten. Ein zum Tode Verurteilter erhielt Gift und schlesische Tonerde und überlebte. Am 15. Januar 1581 gab der Herzog bekannt, dass Terra sigilata aus Schlesien nun als Medizin anerkannt sei und mit einem Terra Sigillata-Stempel versehen werden könne.
Terra sigillata als Gegengift
Neben Vergiftungen wurde Siegelerde in der Renaissance auch bei Giftbissen, Durchfallerkrankungen, Hämorrhoiden, Pest und Fieber sowie gegen Hautkrankheiten, Juckreiz und Skorbut verwendet. Darüber hinaus diente sie ebenfalls als Bestandteil anderer Arzneien. Zu nennen ist hier beispielsweise Theriak, ein Gegenmittel zu Giften, das auch Kreuzotter, Opium, zermahlene Mumienreste und Safran enthielt.
Im späten Mittelalter und in der Renaissance glaubten die Menschen daran, dass Ton unabhängig davon, ob man diesen direkt einnahm oder aus Ton-Tassen oder Tellern aß bzw. trank, dieselbe schützende Wirkung habe. Einen Becher mit diesem Effekt – ein Geschenk des dänischen Prinzen Christian, gestempelt »Terra Sigillata 1639« – erwähnt beispielsweise Worm.