Schon seit den 1970er-Jahren ist in der Archäozoologie, eine auf die Analyse von Tierüberresten spezialisierte Teildisziplin der Bioarchäologie, weitgehend bekannt, dass die Römer irgendetwas mit den Rindern angestellt haben (Abb. 1). Während der europäischen Eisenzeit schienen Rinder regional mehr oder weniger uniform gewesen zu sein. Sie waren in der Regel recht klein und weisen wenige Spuren von Populationsdiversität auf. Aber mit der Eingliederung in das Römische Wirtschafts- und Austauschsystem tauchen plötzlich ganz neue Formen auf: große und kleine, robuste und grazile Rinder tummeln sich in nie dagewesener geografischer Nähe.
Doch wieso und v. a. durch welche Mittel diese Veränderung eingetreten ist, bleibt bislang ohne deutliche Antwort. Das Problem sind sog. epigenetische Faktoren wie Kastration, Krankheit oder Ernährung, welche das Knochenwachstum auf eine Weise beeinflussen können – etwa sodass ein größerer Oberschenkelknochen nicht zwingend einer anderen Rinderpopulation zuzuweisen wäre als ein kleinerer. Und für genetische Analysen müsste das Material erst einmal sinnvoll vorsortiert werden, denn Rinderknochen gehören zu den häufigsten Materialien in römischen Ausgrabungsstätten. Aus diesem Grund fühlt das Dissertationsprojekt Conquest by Cattle («Eroberung durch Rindvieh») an den an Universitäten von Exeter und Bristol den römischen Rindern wortwörtlich auf den Zahn.
Neues aus der Evolutionsbiologie
Das Vorhaben bedient sich einer neuen Methode aus der Evolutionsbiologie, welche zunehmend Anwendung in der Archäologie findet: die Geometrische Morphometrie (GMM). Für diese Methode werden Objekte digitalisiert, entweder als 3D-Modelle oder als 2D-Fotografie. Dabei ist wichtig, dass die Fotos aus dem immergleichen Winkel geschossen werden. Anschließend werden die Objekte händisch an anatomisch definierten Punkten mit sog. Landmarks versehen (Abb. 2) deren Position zueinander dann computergestützt analysiert wird. Dadurch ist es möglich, ein Objekt in extremer Tiefe zu beschreiben und sogar subtilste Formunterschiede zu erkennen.
Die Methode wurde bereits erfolgreich verwendet, um schwer voneinander zu unterscheidende Spezies, z. B. Equidae, im archäologischen Material auseinanderzuhalten. Mit der Verwendung von GMM geht es nun noch einen Schritt weiter: Wenn die Unterscheidung auf Spezies-Level möglich ist, warum dann nicht auch auf Populations-Level? Die Populationsebene beschreibt im Gegensatz zur Speziesebene eine geografisch und genetisch begrenzte Gruppe von Individuen innerhalb einer Art und untersucht deren spezifische Anpassungen und Veränderungen in Abhängigkeit von Umweltbedingungen und innerartlichen Interaktionen.
Für diesen Zweck wurden einige Hundert Weisheitszähne von eisenzeitlichen und römischen Rindern aus Südengland ausgewählt und fotografiert. Zähne sind aus zwei Gründen besonders nützlich: Zum einen sind sie sehr robust, werden also oft gut erhalten ausgegraben, zum anderen sind sie – im Vergleich zu Knochen – weniger anfällig für die erwähnten epigenetischen Faktoren. Durch die Analyse der relativen Formunterschiede zwischen den Zähnen soll die Frage beantwortet werden, inwieweit sich Populationsunterschiede zwischen eisenzeitlichen und römischen Rindern beweisen lassen. Besonders interessant ist zudem, ob die Diversität der Populationen während der römischen Periode statistisch signifikant zugenommen hat.
Südengland als Fallstudie
Südengland bietet dafür eine besondere Gelegenheit: Anders als auf dem Festland lässt sich hier ein genaues Datum für den Beginn und das Ende der römischen Präsenz definieren – aus historischer Sicht ein klarer Vorteil von Inseln. Zum anderen bietet Südengland ein ausgesprochen mildes Klima, das, so zumindest die Arbeitshypothese – wunderbar geeignet ist, um auch «exotischere» Rinderformen aus dem Mittelmeerraum zu halten.
Das archäologische Material wird dann zusammen mit modernem Referenzmaterial analysiert und verglichen. Dafür wurden die beiden größten Sammlungen von Rinderschädeln mit bekannter Rasse aufgesucht, die Julius-Kühn-Sammlung im Museum für Haustierkunde in Halle und die Adametz-Sammlung im Naturhistorischen Museum in Wien. Dieser Vergleich ist unbedingt nötig, da ein Referenzrahmen für die sich verändernde Populationsdiversität der verschiedenen Epochen geschaffen werden muss.
Die Analyse wird gerade verfeinert und fertiggestellt, die Ergebnisse bleiben abzuwarten. Doch es ist schon jetzt offenkundig, dass auch die Geisteswissenschaften stets auf der Suche nach neuen methodischen Entwicklungen bleiben müssen. Ohne GMM wäre es nicht möglich, die Populationsdiversität nicht nur von Rindern, sondern von allen historischen Nutztieren adäquat einzuschätzen. Statt Grabenkämpfe um Deutungshoheiten zu führen, bringt offensichtlich gerade die Synthese von Geistes- und Naturwissenschaft spannende neue Erkenntnisse. Eine Synthese welcher der Disziplin der Bioarchäologie immer mehr zur Natur wird.