Von Leoni Hellmayr, Archäologin und freie Journalistin, Baden-Baden
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Am 6. Januar 1822 brachte Luise Schliemann, die Frau des Pastors Ernst Schliemann, ihr fünftes Kind zur Welt. Keiner ahnte zu diesem Zeitpunkt, welchen Weg der kleine Heinrich eines Tages gehen sollte. Mit Mitte Zwanzig bereits ein reicher Kaufmann, bleibt er der Nachwelt vor allem als Entdecker des bronzezeitlichen Troja, als Vater der mykenischen Archäologie in Erinnerung. 1881, rund zehn Jahre, nachdem er bei seinen Grabungen im kleinasiatischen Hissarlik auf die Ruinen von Troja gestoßen war und mit der Entdeckung des Schatzes von Priamos weltweite Berühmtheit erlangt hatte, veröffentlichte Heinrich Schliemann ein Buch mit dem Titel »Ilios«. In diesem Werk schreibt der Verfasser nicht nur über die Grabungen in Troja, sondern auch über sich selbst. Im zweiten Abschnitt seiner Autobiografie erwähnt Schliemann das Dorf Ankershagen, in dem er viele Jahre seiner Kindheit verlebte, mit folgenden Worten:
»In diesem Dorfe verbrachte ich die acht folgenden Jahre meines Lebens, und die in meiner Natur begründete Neigung für alles Geheimnisvolle und wunderbare wurde durch die Wunder, welche jener Ort enthielt, zu einer wahren Leidenschaft entflammt.«
Die Zeit – stehen geblieben
Die Fahrt zu jenem wundersamen Ort führt vorbei an sanft geschwungenen Hügeln, Seen und Wiesen, auf denen Kraniche und Störche rasten, vorbei an endlosen Rapsfeldern, die je nach Jahreszeit die Landschaft in ein kräftiges Gelb tauchen. Unmittelbar nach dem Ortseingang von Ankershagen ist das Ziel erreicht. Der Besucher steht auf dem historischen Pfarrgelände, zwischen einer der ältesten Feldsteinkirchen Mecklenburg-Vorpommerns, dem Pfarrhaus – sowie einem trojanischen Pferd. Das Pfarrhaus beherbergt das Heinrich-Schliemann-Museum, das trojanische Pferd ist eigentlich eine große Rutsche, die eigens für die kleinsten Besucher gebaut wurde und zu einem Wahrzeichen der Region geworden ist. Beim Pfarrhaus liegt der einstige Garten, hinter dem sich die idyllische Landschaft aus Feldern, Wiesen und Wäldern erstreckt. In den letzten 200 Jahren hat sich dieser Ort offenbar nur wenig verändert. Die Zeit scheint stehen geblieben und bald schon stellt man sich vor, wie der kleine Heinrich selbst mit flinken Schritten einst durch den Garten gerannt ist und kräftig an der Türklinke gezogen hat, um in das Elternhaus zu treten. Schnell schiebt sich der Museumsbesucher hinter dem Jungen durch die Tür, bevor sie ins Schloss fällt.
Kindheit in Ankershagen
Die Holzdielen des Hauses knarzen, als der Besucher den ersten Raum der Ausstellung betritt. Dieser Bereich widmet sich Ankershagen. Zu sehen sind historische Fotos und Postkarten aus dem frühen 20. Jh., die unter anderem das Pfarrhaus abbilden. An einer Medienstation in der Mitte des Raumes werden die Sagen vorgestellt, von denen die Menschen in dieser Gegend seit jeher zu erzählen wussten und die den jungen Heinrich so faszinierten. Hier, in diesem kleinen unscheinbaren Dorf, so erzählt es Schliemann später, entstand sein großer Traum von der Entdeckung Trojas; zugleich spielten sich hier schlimme Ereignisse ab, die ihm noch bis ins hohe Alter in Erinnerung bleiben würden. Schon als Kind verlor er seine Mutter, und als Schliemanns Vater seine Geliebte bereits kurz nach dem Tod seiner Frau ins Haus ziehen ließ, kam es wegen des Skandals zu Tumulten der Dorfbewohner vor dem Pfarrhaus. Der Vater ließ seine Kinder bei Verwandten unterbringen, sodass Heinrich und seine Geschwister ihr Zuhause in Ankershagen Hals über Kopf verlassen mussten. Wohl an keinem anderen Ort kann der Besucher die verstörende Wirkung dieser Ereignisse auf Heinrich Schliemann so sehr nachempfinden wie hier.
Das Sprachgenie und die Frauen
Mit jedem neuen Raum lernt der Besucher eine weitere Lebensstation Schliemanns kennen. Der Einstieg in die kaufmännische Lehre war zugleich der Beginn einer erfolgreichen Karriere, die ihn bereits in seinen Zwanzigern zum Selfmade-Millionär aufsteigen ließ. Nicht zuletzt half ihm dabei seine Fähigkeit, sich mit den Menschen in ihrer eigenen Landessprache zu unterhalten. Zuletzt hatte sich Schliemann rund 20 Sprachen autodidaktisch beigebracht. An einer Medienstation kann der Besucher mithilfe eines Quiz einen Eindruck von diesem außergewöhnlichen Talent gewinnen.
Die Beziehungen Schliemanns zu anderen Menschen, darunter seinen beiden Ehefrauen, spielen eine große Rolle in der Ausstellung. Weniger bekannt als seine spätere Vermählung mit der Griechin Sophia ist seine erste Heirat mit der Russin Jekaterina Lyshina, die ihm drei Kinder schenkte. Schliemann erwähnte in seinen Selbstzeugnissen selten und offenbar nur ungern diese Ehe, aus der er immer öfter flüchtete, indem er ausgedehnte Reisen unternahm. In der Ausstellung wird jedoch auch Schliemanns russischer Familie wortwörtlich Gehör verschafft: So kann sich der Besucher Auszüge aus Briefen anhören, die Schliemanns Kinder Sergej, Natalja und Nadeshda an ihren meistens abwesenden Vater schrieben. Es ist berührend, ihre kindlichen Worte zu hören, vor allem mit dem Wissen, dass die Ehe ihrer Eltern letztendlich scheitern und Heinrich Schliemann Russland irgendwann endgültig den Rücken zukehren würde, um eine neue Familie zu gründen. Nach einer intensiven Brautschau vermählte sich der bereits 47-Jährige mit der gerade einmal 17-jährigen Sophia Engastromenos aus Athen. Zusammen bekamen sie zwei Kinder. Bis zu seinem Tod war sie ihm eine treue Wegbegleiterin.
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Immer unterwegs
Die neue Ausstellung, die zusammen mit der Heinrich-Schliemann-Gesellschaft entworfen wurde, geht auch auf die Reisetätigkeit Schliemanns ein und schafft es, diese Leidenschaft mit unterschiedlichen Medien und Objekten gut zu veranschaulichen. Ob nun aus geschäftlichen Gründen, um sich gesundheitlich zu erholen oder einfach aus Neugier auf das Fremde – Schliemann verbrachte zusammengerechnet viele Jahre damit, auf dem Weg nach irgendwo zu sein. Wie seine Unterkünfte dabei ausgesehen haben könnten und auf welchen Verkehrsmitteln er sich vorwärts bewegte, welche Sehenswürdigkeiten er besichtigte und welche Kulturen er kennenlernte, das alles erfährt man anhand von historischen Fotografien, Landkarten und Modellen der damaligen Verkehrsmittel. Man lernt den Kosmopoliten Schliemann kennen, der jede Mühe auf sich nahm, um an sein Ziel zu gelangen. So reiste er auf einem offenen Pferdeschlitten durch das winterliche Russland, mit einem Dampfschiff über den endlosen Pazifik, auf einem Kamel durch die Wüste Ägyptens oder auf einem Maultierkarren zur chinesischen Mauer. Schliemann war – das spürt der Besucher immer deutlicher – ein von innerer Unruhe getriebener Mann. Er schaffte es nicht einmal, nach einer notwendigen Operation für sein chronisches Ohrenleiden vier Wochen ruhig im Krankenhaus liegen zu bleiben. Eine Entzündung des Ohres sollte ihm letztendlich zum Verhängnis werden. Am 26. Dezember 1890 starb Heinrich Schliemann.
Mit dem Raum, der die Trauerfeier und das prachtvolle Grabmal zum Thema hat, ist die Schau jedoch noch nicht zu Ende. Denn Heinrich Schliemann hatte sich schließlich als »Troja-Entdecker« unsterblich gemacht, und so wird seinen Leistungen als Archäologe im letzten Bereich der Ausstellung gebührend Platz eingeräumt. Der Besucher sieht Originalfundstücke aus Griechenland und Troja – Leihgaben des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin – aber auch sehenswerte Kopien wie die Nachbildung der Maske des Agamemnon. Viele der Objekte stehen in Glasvitrinen, die im alten Holzgebälk des Hauses angebracht wurden. Schliemanns Wunsch von der Entdeckung Trojas verschmilzt hier förmlich mit den Räumen, in denen er das erste Mal von den Epen Homers hörte.
Ein Museum für Jung und Alt
In der ersten Etage des Heinrich-Schliemann-Museums lernen die kleinen Besucher anhand interaktiver Angebote den Arbeitsplatz der Archäologen spielerisch kennen. Da können die »Schliemänner« von morgen Arbeitsschritte wie die Vermessung oder Zuordnung von Fundstücken an den einzelnen Stationen austesten, die mit vielen Details echten Fundplätzen nachempfunden sind. Das Schönste vielleicht ist, dass sie dabei im früheren Kinderzimmer Schliemanns stehen. Genau hier blickte der kleine Heinrich aus dem Fenster auf das »Silberschälchen«, einen kleinen Teich im Pfarrgarten, der in der reichen Sagenwelt von Ankershagen ebenfalls seinen Platz hat.
Auch im Außenbereich bietet das Heinrich-Schliemann-Museum viele Anreize zum Ausprobieren. Neben der Rutsche in Form des Trojanischen Pferds gibt es einen Sandplatz, wo die Kinder nachgebildete Amphoren, Mosaikbodenstücke und weitere Objekte ausgraben können. In dem Raum zur Troja-Entdeckung können sie mit einem Telefon die Götter und Helden des Trojanischen Krieges anrufen. Undine Haase, die Leiterin des Heinrich-Schliemann-Museums, stellt fest, dass die neu konzipierte Schau bislang auf viel positive Resonanz gestoßen ist. So kamen bereits im ersten halben Jahr nach der Wiedereröffnung im Juni 2019 rund 11 000 Gäste – ein deutlicher Aufschwung im Vergleich zu früheren Besucherzahlen. Sicherlich liegt das unter anderem an der moderneren Ausstattung, die gerade auch Schulklassen einen einfacheren Zugang zum Thema ermöglicht. In jedem Fall trifft jeder Besucher, ob jung oder alt, im idyllisch gelegenen Ankershagen auf ein Kleinod, das dank der Geschichte seiner Gemäuer sowie seiner neu konzipierten Dauerausstellung spannende Einblicke in das Leben einer Persönlichkeit verschafft, die uns bis heute fasziniert.