Zum Museum
Nur langsam gewöhnen sich die Augen an die Finsternis. Aber auch danach ist nicht viel mehr als ein fensterloser, karg eingerichteter Raum zu erkennen – mit zwei Holzbänken möbliert, die an den Seitenwänden aufgestellt sind. Schemenhaft zeichnen sich helle Schafsfelle ab, die auf den Bänken liegen. Das wenige Licht, das auf die wollenen Pelze fällt, dringt durch den Rahmen einer halb geöffneten Holztür. Sie ist der einzige Zugang zu dem Zimmer. Der Blick fällt auf eine Feuerstelle in der Mitte des Raumes. Fragen kommen auf: Wer waren die Bewohner? Wer saß mit hochgezogenen Beinen auf den weichen Fellen, geschützt vor dem eisigen Wind, der an kalten Wintertagen um das Haus pfiff? Wer wärmte sich an der heißen Glut der Feuerstelle? Der Geruch von kaltem Rauch dringt in die Nase, Asche wird von einem Windhauch aufgewirbelt … Lebt hier etwa noch jemand?
Belebende Wirkung
Vor rund zehn Jahren setzten Mitglieder des »Via Carolina – Goldene Straße e.V.« einen ambitionierten Plan in die Tat um: In Bärnau im Oberpfälzerwald begannen sie mit den Bauarbeiten zu einem archäologischen Freilandmuseum. Drei rekonstruierte Siedlungen aus dem 9. bis 13. Jh. sollten den zukünftigen Besuchern die gemeinsame Geschichte von Bayern und Böhmen vermitteln. Ein Ziel war es, endlich die Grenzen zu überwinden, die zwar seit dem Ende des »Eisernen Vorhangs« physisch nicht mehr existieren, dennoch in vielen Köpfen weiterspuken.
Darüber hinaus strebte der Verein noch etwas anderes an: Mithilfe dieses Projekts sollte die Region (wieder)belebt werden. Denn Bärnau, über 100 Jahre lang geprägt und berühmt durch seine Knopfindustrie, erlitt mit dem neu entstandenen Massenmarkt von preisgünstigen Knöpfen in den 1980er Jahren einen wirtschaftlichen Niedergang. So leistet der Geschichtspark seit seiner Eröffnung 2011 einen besonderen Beitrag zur touristischen wie auch wirtschaftlichen Zukunft der Region.
Holzhäuser im Urwald
Der fensterlose Raum gehört zu einem rekonstruierten Haus aus der slawischen Siedlung des 8. bis 9. Jh. Es besteht lediglich aus diesem Zimmer, wie sich, von draußen im Tageslicht betrachtet, herausstellt. Die benachbarten Häuser scheinen alle nur eines gemeinsam zu haben: ihre Einzigartigkeit. Während das eine Bauwerk mit kleinen Holzschindeln überdacht ist, besteht das Dach des nächsten aus Reet. Ein Blockhaus mit massiven dichten Holzwänden steht neben einem lehmverputzten Haus, ein langgestrecktes Haus neben einem besonders kleinen.
Die Grabungsbefunde von Ausgrabungsstätten wie Groß Raden in Mecklenburg-Vorpommern oder Dietstätt in Bayern haben gezeigt, dass die Westslawen in unterschiedlichen Behausungen lebten. Im Geschichtspark Bärnau werden die Hausformen nebeneinander präsentiert. Dieser Querschnitt zeigt den Besuchern schaubildhaft, welche Möglichkeiten und Bautechniken die Menschen des westslawischen Kulturkreises beherrschten, um ihre Heime zu errichten.
Das Blockhaus gehört vermutlich zu den ältesten Haustypen. Im frühen Mittelalter, als die Slawen entlang der Donau Richtung Regensburg und von dort in den Nordosten Bayerns zogen, fanden sie eine menschenleere Gegend vor – und einen riesigen Urwald. Zu jener Zeit gab es in dieser Region noch Holz in rauen Mengen, sodass die Menschen das Material großzügig beim Häuserbau einsetzen konnten. Das zeigte sich eindrucksvoll bei der Rekonstruktion des Blockhauses, für dessen Bau nicht weniger als 76 Lärchen und 13 Eichen gefällt werden mussten.
Zutritt erlaubt
Gerade das unterschiedliche Aussehen der Häuser im Geschichtspark Bärnau-Tachov weckt die Neugier, jedes einzelne auch im Inneren zu erkunden. Zum Grubenhaus muss man erst einmal mehrere Stufen nach unten gehen, da es im Boden eingetieft wurde. Hier drin fühlt man sich gleich angenehm behaglich – die Atmosphäre erinnert ein bisschen an eine Höhle. Für eine slawische Familie mit fünf bis acht Personen dürfte die nur wenige Quadratmeter große Innenfläche des Hauses recht eng gewesen sein. Dass die übersichtliche Größe, vor allem aber die Eintiefung verlässlichen Schutz vor rauer Witterung und Kälte bot, kann der Besucher, der sich selbst einmal hier hineinbegibt, leicht nachvollziehen. Tatsächlich wurden an manchen Tagen in den vergangenen Wintern bei einer Außentemperatur von -10 Grad im Rauminneren bis zu +15 Grad gemessen.
Ein völlig anderes Gefühl entsteht beim Besucher, wenn er vor dem sicherlich imposantesten Bauwerk der Siedlung steht. Das Langhaus ist, wie sein Name bereits offenbart, vor allem eines: erstaunlich lang. Es bildet den Mittelpunkt dieses Dorfes, war einst Wohnung der herrschenden Familie, Versammlungsort sowie Repräsentationsraum in einem. Und wieder kann man, weil von Schildern mit »Zutritt verboten« weit und breit nichts zu sehen ist, eintreten, die Eindrücke in Ruhe auf sich wirken lassen – und in die Vergangenheit eintauchen.
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Die Gemeinschaft war heilig
Bilder ziehen im Kopf vorbei – Bilder von den Dorfbewohnern, die sich um die große Feuerstelle im Repräsentationsraum versammelten. Bilder von Fremden, die auf der Durchreise waren und hier eine ihnen wohlgesonnene Gemeinschaft vorfanden, die sie mit einer warmen Mahlzeit empfing. Gastfreundschaft, denkt der Besucher, muss ein kostbares, ein (über)lebenswichtiges Gut gewesen sein, vor allem für diejenigen, die ihre Heimat verlassen hatten und in fremde Regionen aufbrachen.
Dann entstehen vor dem inneren Auge Bilder von weniger herzlichen Treffen im Langhaus, Bilder von Dorfbewohnern, die vielleicht gegen die Sitten verstoßen hatten oder aus einem anderen Grund sich in ihrer Gemeinschaft unbeliebt gemacht hatten. Hier mussten sie sich den bohrenden Fragen der übrigen Bewohner stellen. Es gab kein Entrinnen, denn außerhalb der Siedlung wartete nichts als Einsamkeit, Hunger und Kälte. Der Angeklagte wird auf Vergebung gehofft haben, denn die Verbannung aus der Gemeinschaft wäre einem Todesurteil gleichgekommen. Auch das wird dem Besucher, während er an der Feuerstelle sitzt, klar: In einer solchen Zeit kann es keine Individualisten gegeben haben. Nur mit gemeinsamen Kräften ließ sich ein Haus bauen, nur gemeinsam konnte man sich vor Gefahren schützen. Die Gemeinschaft war heilig.
Auf diese Weise schafft das Freilichtmuseum etwas, das vielen anderen Museen nur schwer gelingt: Weil der Besucher mittendrin stehen darf, kann er den Lebensbedingungen des Mittelalters auch innerlich nachspüren. Auf Infotafeln wurde bewusst verzichtet. An diesem Ort soll die Gegenwart so wenig wie möglich präsent sein, damit das Ambiente ungefiltert bleibt – lediglich die gesetzlich vorgeschriebenen Feuerlöscher in den Häusern bilden eine Ausnahme.
Unter dem strengen Blick von »Svantovit«
Ein schmaler Pfad führt aus der frühmittelalterlichen Siedlung heraus; der Besucher spaziert vorbei an Wiesen und einem kleinen Fluss. Die Umgebung würde recht idyllisch wirken, wenn da nicht diese Stele mit ihrem unheimlich aussehenden Antlitz aus der Wiese ragte. Der strenge Gesichtsausdruck des slawischen Kriegsgottes »Svantovit« richtet sich auf einen großen Opferstein mit Tonscherben, der zu seinen Füßen aufgestellt wurde. Nicht weniger beklemmend wirkt das Sumpfloch, nur wenige Meter hinter der Stele. Abgesehen von ein paar abgeknickten Schilfrohren ragen mehrere Speere aus dem Moor, an deren Spitzen Tierschädel befestigt wurden. Es handelt sich um den Bereich der Toten, von dem Opferplatz durch einen niedrigen Weidezaun abgegrenzt. Der Totenbereich wie auch der Kultplatz wiederum wurden stets weit außerhalb einer slawischen Siedlung angelegt – denn dort waren nur die Lebenden erwünscht.
Ein Anliegen des Museums war es, die mittelalterliche Natur- und Kulturlandschaft nachzubilden. In der Mitte des Geländes liegt ein etwa 1 ha großer Weiher. Die Pflanzen wachsen wild und hoch; zahlreiche alte Obstbäume und Wildobstgewächse wie beispielsweise die Mispel wurden gesetzt. Ihre Früchte sind praktischerweise nach Frosteinwirkung oder längerer Lagerung essbar, sodass sich die Menschen im Mittelalter auch im Winter mit Vitaminen versorgen konnten. Im Weiher schwimmen alte Fischsorten wie Karauschen und Schuppenkarpfen. Die Renaturierung hat sich als erfolgreich bewiesen und scheint zum Selbstläufer geworden zu sein: In den Gewässern auf dem Gelände wurden mittlerweile Exemplare des vom Aussterben bedrohten deutschen Edelkrebses gesichtet. Der Besucher wird auf seinem Weg noch zwei weitere rekonstruierte Siedlungen entdecken, die der Zeit des Frühen Hochmittelalters sowie des Hochmittelalters nachempfunden sind. Über allem thront die Turmhügelburg, auch als »Motte« bezeichnet – eine Rekonstruktion zu einer sehr frühen Zeitstellung um das Jahr 1060. Mittlerweile ist die Motte zum unübersehbaren Wahrzeichen des Geschichtsparks geworden.
»Living History« sehen und mitmachen
An vielen Tagen wird der Geschichtspark Bärnau-Tachov zum Leben erweckt. Dann steigen kleine Rauchsäulen über den Siedlungen in den Himmel hinauf. Frauen sitzen an den Türschwellen und nähen, Männer klopfen und hämmern in der Schmiede, Kinder spielen zwischen den Häusern – und alle tragen mittelalterliche Gewänder.
Die ehrenamtlichen Darsteller zeigen quasi im Selbstversuch, wie sich der Alltag in der Realität abgespielt haben könnte. Dabei arbeiten sie eng mit Wissenschaftlern zusammen und recherchieren auch in privaten Studien, um ihre Kleidung und ihren Hausrat so originalgetreu wie möglich herzustellen. Die Darsteller können sogar in den Häusern übernachten. Unter dem Begriff »Living History« versteht man »Geschichte lebendig machen«. Und so scheint es dem Besucher bei seiner Erkundungstour durch die Häuser aus gutem Grund so, als hätten die Bewohner den Raum eben erst verlassen.
Der Besucher muss dabei nicht in der Zuschauerrolle bleiben, sondern darf auch aktiv mitwirken. Kräuterkurse und Schwertseminare werden angeboten; zudem finden regelmäßig Thementage statt – wie der »Fischtag«, wenn die frisch geangelten Karauschen im Ofen geräuchert werden. Das Angebot speziell für Familien und Kinder sowie für Schulklassen ist ebenso vielseitig. Auf große Begeisterung stieß ein mittelalterliches Zeltlager, in dessen Rahmen eine Schul-AG vier Tage und Nächte auf dem Museumsgelände verbringen und auf diese Weise Geschichtsunterricht in seiner lebendigsten Form erleben durfte. Speziell für tschechische Schulklassen gehören tschechische Museumspädagogen zum Team, sodass sich das Museumsangebot grenzübergreifend vermitteln lässt.
Reisestation für Karl IV.
Neben dem Geschichtspark steht seit 2018 das ArchaeoCentrum Bayern-Böhmen. In diesem Freilichtlabor werden Forschungsprojekte zur experimentellen Archäologie von der Universität Bamberg und den Universitäten Prag und Pilsen durchgeführt. Das wohl gigantischste Projekt vom ArchaeCentrum befindet sich hinter den Stadthäusern des Hochmittelalters. Auf einer Schaubaustelle soll das originalgetreue Abbild einer Reisestation entstehen, wie sie Kaiser wie Karl IV. im 14. Jh. auf seinen Reisen entlang der Handelsroute der Goldenen Straße von Prag nach Nürnberg genutzt haben dürfte. Und da der Kaiser sich nicht mit einer einfachen Herberge zufrieden gegeben hätte, geht es um ein stattliches Bauwerk mit einer 3 m hohen Außenmauer samt Palas, Torhaus, Kapelle und Gesindehäusern. Ein Teil der Mauer steht bereits. Die Handwerker behelfen sich auch bei dieser Rekonstruktion allein mit dem Baumaterial und Werkzeugen, die ihnen im Spätmittelalter zur Verfügung gestanden hätten. In einem Kalkbrennofen wird der Mörtel produziert, im Sägewerk werden Baumstämme mit Äxten zu Balken gehauen und andere hölzerne Bauteile hergestellt. Die Schaubaustelle ist ein Langzeitprojekt: Die fertige Reisestation wird wohl erst in rund 20 Jahren zu bestaunen sein.
Der Geschichtspark zeigt eindrucksvoll, wie sich Wissenschaft, Hobby und Handwerk erfolgreich auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Forschungsarbeit und der Spaß des Erlebens befruchten sich gegenseitig und schenken dem Besucher eine unterhaltsame und lehrreiche Darstellung von Archäologie und Geschichte.
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