Von Angelika Franz und Daniel Nösler
Wer die Geschichte des Elbe-Weser-Dreiecks verstehen will, muss einiges über Wasser wissen. Nass ist es hier, an der Landspitze zwischen den Mündungen der beiden großen Flüsse, denn das Wasser kommt von allen Seiten. Es kommt von Süden mit der Weser aus den Mittelgebirgen, aus dem Thüringer Wald und der Rhön. Mit der Elbe ist es über 1000 km aus dem Riesengebirge im Osten angereist, und über die Moldau gar aus dem Bayrischen Wald. Schiffe konnten Menschen, Waren und Informationen aus ganz Europa an die Küste bringen.
Das Wasser kommt aber auch von Nordwesten mit der Nordsee. An schlechten Tagen ist es unberechenbar, frisst immer wieder große Teile der Küste oder tränkt wertvolles Weideland in Salz. An guten Tagen aber öffnet die Nordsee das Tor in die große weite Welt. Dann bildet die Landzunge zwischen Weser- und Elbmündung das Sprungbrett in ein besseres Leben. Die Sachsen stiegen hier in ihre Boote und setzten nach Britannien über. Und noch Jahrhunderte später gingen Zehntausende Emigranten hier an Bord, um in der Neuen Welt ihr Glück zu suchen.
Als ob das nicht genug Wasser wäre, kommt es auch noch von oben. Regenwolken sind Dauergäste im moderaten Küstenklima. Das Regenwasser spült selbst die letzten Nährstoffe aus den sandigen Böden der Geest und sorgt für Staunässe auf den Wiesen der Marsch. Dort vermischt sich das Wasser von oben schließlich mit jenem, das stets von unten her hochdrückt: dem Grundwasser, das nur knapp unter der Oberfläche ansteht. In Gemeinschaftsarbeit sorgen Wasser von oben und von unten dafür, dass kaum Sauerstoff das Erdreich durchdringen kann, und wandeln den Boden in unüberwindbares, tückisches Moor.
Geest, Marsch und Moor
Diese drei Landschaftsformen prägen das Elbe-Weser Dreieck. Je nach Perspektive liebt oder verflucht man sie. Die Geest bietet einen entscheidenden Vorteil: trockene Füße. Im Ernstfall – bei Sturmfluten oder Dauerregen – sind die höheren Geestrücken und -inseln der einzige Boden, der noch aus dem unbegehbaren Nass herausragt. Dafür hat es der Ackerbau im sandigen Untergrund schwer, Geestbauern gelten traditionell als arm und bemitleidenswert. Und auch Archäologen wissen, dass auf der Geest nicht viel zu holen ist. Nur allzu schnell zersetzt sich organisches Material im luftdurchlässigen Erdreich.
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Vom Vorgeschichtspfad Flögeln mit seinen 30 vorgeschichtlichen bis mittelalterlichen Bodendenkmälern bis hin zum bronzezeitlichen Ringwall Duhnen finden sich weitere Hinweise auf weitere lohnenswerte Ziele in der AiD 5/22.
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Ganz anders dagegen die Marsch. Der fruchtbare Boden, angereichert mit feinen Sedimenten vergangener Fluten, schenkt reiche Ernten. Jeder Stock, den man in den Boden steckt, wird – und sei er noch so trocken – binnen kürzester Zeit Wurzeln und Blätter austreiben. Der Preis ist die Angst vor der nächsten Sturmflut, in der die Äcker, das Haus oder gar das ganze Dorf versinken könnten. Hier überlebt nur, wer sein Haus nicht zu ebener Erde, sondern auf künstlich aufgeschüttete Hügel baut, die Wurten. Es ist ein ständiger Kampf: Trocken bleibt die Marsch nur durch ein ausgeklügeltes Entwässerungssystem, bestehend aus Gräben, Wettern, Pumpstationen und Sielen. Ohne diese stete Entwässerung würde die gesamte Marsch langfristig zum Moor werden. Eins aber ist sicher: Auch wenn ein Marschbauer Hab und Gut an das Wasser verliert, werden die Archäologen der Zukunft es noch finden – denn der feine Boden und die Nässe, die den Sauerstoff fern hält, sorgen für eine exzellente Erhaltung organischen Materials.
Noch besser erhalten bleibt alles natürlich im Moor. Hier, wo selbst feinste Textilien die Jahrhunderte nahezu unbeschadet überdauern, werden Archäologenträume wahr. Das Moor entstand, als der Meeresspiegel anstieg, das Wasser sich bis ins Binnenland staute und die Regenfälle zunahmen. Als Lebensraum ist es mit seinen schwammigen Böden und trügerischen Sumpflöchern, in denen Mann und Pflug versinken können, ungeeignet – es sei denn, man verdient seinen Unterhalt mit dem Schmuggel illegal gebrannten Alkohols, wie es bisweilen auch bei dem einen oder anderen Bewohner des Elbe-Weser-Dreiecks der Fall gewesen sein dürfte.
Besuch am Ende der Welt
Die Anreise erfolgt auch heute noch entlang der alten Wasserwege. Wer aus Hamburg kommt, nimmt die Bundesstraße 73 parallel zur Elbe bis nach Cuxhaven, von Süden aus führt die Bundesautobahn 27 rechts der Weser bis nach Bremerhaven. Es lohnt sich, bei der Ankunft an der Küste wenigstens einmal kurz auf’s Wasser zu schauen – immerhin ist dies der Blick, der sich, egal zu welcher Zeit, jedem ankommenden Binnenländer bot. Bei Ebbe, wenn der nackte Meeresboden silbrig in der Sonne glänzt, scheint die Welt hier tatsächlich zu enden.
Der ideale Ausgangspunkt für die Erkundung des Elbe-Weser-Dreiecks ist das Museum in der Burg Bederkesa. Hier residiert die Landkreisarchäologie und präsentiert Schätze aus ihrem nassen Reich. Das Museum ist nach dem Umbau vor einigen Jahren zu einem wahren Schmuckstück geworden. Fast so schön wie die einzigartigen Exponate in den perfekt ausgeleuchteten Vitrinen sind kleine Überraschungen, die Landkreisarchäologe Andreas Hüser und sein Team zwischen ihnen versteckt haben. Sie garantieren, dass nicht nur Groß, sondern auch Klein Spaß an der Ausstellung haben.
Lächeln und ehrfürchtiges Staunen halten sich beim Gang durch die Ausstellung die Waage. Dies war trotz des irreführenden Eindrucks beim Blick auf das Watt keineswegs das Ende der Welt, sondern zu fast allen Epochen ein Machtzentrum mit weitreichenden Verbindungen. Davon zeugt schon für die Eisenzeit ein kleiner Delfin. Das unscheinbare Bronzetier ist eine Münze, die im 5. Jh. v. Chr. im Schwarzmeergebiet im Umlauf war und die rund 2300 km bis Elbe und Weser vermutlich im Geldbeutel eines Händlers zurücklegte. Mit fortschreitender römischer Zeit wird das Netzwerk dann dichter: Der Griff einer Starstichnadel, mit der ein Heiler den Grauen Star seiner Patienten operierte und ihnen das Augenlicht zurückgab, erzählt von der exzellenten medizinischen Versorgung. Er datiert in das 2. Jh. n. Chr. und ist der einzige Fund eines solchen chirurgischen Instruments außerhalb des Imperiums. Auch die Mode war keineswegs hinterwäldlerisch, sondern orientierte sich an internationalen Standards: Mit einem edlen römischen Elfenbeinfächer, wie er weltweit in nur wenigen Exemplaren bekannt ist, wedelte sich ein Angehöriger der High Society im 2. oder 3. Jh. frische Luft zu.
Ein Dorf wächst in die Höhe
Die beiden letzteren Funde stammen aus der Siedlung Feddersen Wierde. Hier auf einem Brandungswall in der Marsch ließen sich im frühen 1. Jh. v. Chr. Bauern nieder und bauten ihre langgestreckten dreischiffigen Wohnstallhäuser. Knapp 100 Jahre sahen sie zu, wie die Fluten immer wieder die Häuser unter Wasser setzten. Dann aber schichtete, wer sich ein neues Haus baute, darunter zunächst einen Hügel aus Mist und schwerem Kleiboden auf. Mit jedem neuen Haus wuchsen die Hügel höher und die Zwischenräume füllten sich, bis im 3. Jh. das gesamte Dorf mit 26 Häusern und rund 300 Bewohnern auf einer etwa 4 m hohen Wurt thronte. Heute ist an dem Ort, wo einst die Feddersen Wierde stand, nicht mehr viel zu sehen. Doch ihre Ausgrabung gilt als wegweisend. Freigelegt bereits zwischen 1955 und 1963, ist die Feddersen Wierde mit ihrem tiefen Einblick in den Alltag der Sachsen immer noch das einzige vollständig freigelegte Marschendorf. Und mit den zahlreichen naturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Rekonstruktion der Umwelt und der wirtschaftlichen Verhältnisse hat die Ausgrabung bis heute Vorbildcharakter in der interdisziplinären Siedlungsforschung des nordwestlichen Europas.
Die Starstichnadel und der Fächer waren bei Weitem nicht die einzigen römischen Objekte, die ihren Weg in die Marsch fanden. Auf der Feddersen Wierde konnte man mit römischen Münzen zahlen, man steckte sich die Kleidung mit römischen Fibeln zusammen und speiste von feiner Terra sigillata. Einiges davon war Handels-, anderes Beutegut. Auch als Sold oder Mitbringsel zurückgekehrter Dorfbewohner aus römischem Militärdienst wird das eine oder andere Objekt auf die Feddersen Wierde gekommen sein.
Das vermutlich eindrucksvollste dieser römischen Accessoires und ein weiteres Glanzstück des Museums ist der Gürtel eines Mannes, der in einem der Gräber der Wurtensiedlung Fallward gefunden wurde. Die Fallward lag rund 2 km südlich der Feddersen Wierde und ist zeitgleich mit ihr – man kannte sich und konnte sich, so der Regen die Sicht nicht behinderte, zuwinken. Seinen Gürtel, ein kostbares Stück mit Beschlägen und Schnalle aus fein verziertem Metall, hatte der Mann vermutlich in jungen Jahren während des Dienstes im römischen Heer erworben. Der Rest des Grabes aber war keineswegs römisch. Er lag in einem Langboot, das mit Holzbohlen abgedeckt war. Unter den hervorragenden Bedingungen im Marschboden haben nicht nur die Planken des Schiffes die Jahrhunderte überdauert, sondern auch der berühmte Thron aus der Marsch, ein reich verzierter aus einem Baumstamm gearbeiteter Prunksessel. Passend dazu besaß der Tote einen kleinen Tisch, wie Tacitus ihn als den Germanen typisches Möbel beschreibt: » jeder hat einen eigenen Platz und seinen eigenen Tisch«.
Sowohl die Bewohner der Feddersen Wierde als auch jene der Fallward blieben bis zum 5. Jh. Dann schnürten sie ihre Bündel, bestiegen Schiffe und segelten nach Britannien. Gut vorstellbar, dass die Idee für den sächsischen Massenexodus von ehemaligen römischen Söldnern wie jenem Mann von der Fallward in ihre Köpfe gepflanzt wurde. Die Soldaten im römischen Militärdienst hatten mit eigenen Augen gesehen, welche Chancen das nach dem Abzug der Römer entstandene Machtvakuum auf der Insel bot. Die Geschichte sollte ihnen Recht geben. War der Tote von der Fallward mit Tisch und Stuhl aus Holz und einem metallbeschlagenen Gürtel bereits ein reicher Mann im Vergleich zu seinen Zeitgenossen, übertrumpften ihn einige Generationen später britische Nachfolger wie der Herrscher von Sutton Hoo mit seinen Schätzen um ein Vielfaches.
Vorbei an Großsteingräbern
Bevor man das Museum verlässt, sollte man noch unbedingt um den Schlüssel zum Großsteingrab auf dem Vorgeschichtspfad Flögeln bitten, der knapp zehn Autominuten entfernt beginnt. Auf nur 2 km Waldweg liegen hier 30 vorgeschichtliche bis mittelalterliche Bodendenkmäler dicht an dicht. Schon das erste – jenes Großsteingrab, zu dessen Gittertor der Schlüssel passt – erinnert eindrucksvoll daran, dass das Elbe-Weser-Dreieck nicht erst zu römischer Zeit, sondern bereits lange davor ein bedeutender Landstrich war. 4 m hoch ragt der Hügel aus dem Waldboden, aufgeschüttet im 4. Jt. v. Chr. von Angehörigen der Trichterbecherkultur. Hinter dem Tor beginnt ein kurzer Gan, in die Grabkammer von 5,80 m Länge und rund 2 m Breite. Hier fand 1882 ein Sammler von Altertümern ein Beil, eine Axt und Keramikscherben. Aus einem zweiten Grab in unmittelbarer Nähe kamen gegen Ende des 19. Jh. über 1000 Keramikscherben, rund 700 Feuersteingeräte und -abschläge sowie 30 querschneidige Pfeilspitzen und eine halbe mit Rillen verzierte Axt zutage. Beide Gräber dürften den Funden nach etwa zeitgleich sein.
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Kathedralen der Steinzeit
Von Menschen errichtete Anlagen mit großen Steinen, die Megalithen, sind ein in urgeschichtlichen Kulturen weltweit verbreitetes Phänomen. Diese in unserer modernen Landschaft fremd und exotisch anmutenden Bauten wurden zumeist als Bestattungsplätze oder als Heiligtümer angelegt. Die im nördlichen Mitteleuropa verbreiteten Megalithbauten – zu denen neben den Großsteingräbern auch Steinkreise, Steinreihen, Steinkisten und Einzelmonumente gehören – stammen aus der Zeit zwischen ca. 4800 und 2500 v. Chr. und stellen damit die älteste bis heute erhaltene Architektur in dieser Region dar. Die weltweit bekannteste Anlage dieser Gruppe ist das in diesem Band auf der Grundlage neuester Forschungsergebnisse behandelte Stonehenge in Südwestengland. Das Wissen um die enorme Bedeutung dieser megalithischen Monumente war schließlich der Anlass eine europaweite „Straße der Megalithkultur“ als offiziellen Kulturweg des Europarats zu initiieren.
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Wer es eilig hat oder nicht ganz so beweglich ist, kann nach diesen beiden ersten Stationen umdrehen und so Zeit und Kräfte sparen für den Vorgeschichtspfad Sievern auf der anderen Seite der Bundesautobahn 27. Gleiches gilt auch für Menschen, die sich eher für jüngere Epochen interessieren, denn die Monumente dieses 4 km langen Rundwegs führen vornehmlich in die Frühgeschichte und das Mittelalter. Der Pfad beginnt mit der Pipinsburg – die allerdings keinen Bezug zum Vater Karls des Großen hat, son-
dern – obwohl im 10. Jh. erbaut – diesen Namen erst seit etwa 1600 trägt. Noch heute bietet sie trotz Überwaldung einen imposanten Anblick mit ihrem bis zu 6 m hohen Wall, der eine Fläche von rund 60 m Durchmesser einschließt. Die Pipinsburg thront am Ende einer kleinen Geestzunge, und es ist nur allzu gut vorstellbar, wie jeder Feind, der über die sich zu ihren Füßen erstreckende, tellerflache und baumlose Landschaft näherzukommen wagte, schon Stunden vorher beobachtet werden konnte.
Römer, Markomannen, Cherusker & Co.
Entlang an mehreren bronzezeitlichen Grabhügeln führt der Pfad zu den beiden Ringwällen Heidenschanze und Heidenstadt. Erstere datiert vom Ende des 2. Jh. v. Chr. bis ins 3. Jh. n. Chr., die Heidenstadt stand länger, vom 1. Jh. v. Chr. bis etwa ins 5. Jh. n. Chr.. Es waren unruhige Zeiten im Elbe-Weser-Dreieck. 12 v. Chr. kamen die Römer von See her und unterwarfen die Friesen, 17 Jahre später versuchten sie einen weiteren Vorstoß am linken Elbufer und im Jahr 15 n. Chr. belagerte eine Römerflotte die Wesermündung und störte mit ihrer Anwesenheit empfindlich die Handelsgeschäfte. Zwei Jahre darauf stritten sich Markomannen und Cherusker und 28 n. Chr. hatten die Friesen genug von der römischen Herrschaft und erhoben sich. Zwischen all’ diesen kriegerischen Auseinandersetzungen galt es, die Handelsware zu schützen. Bei Heidenschanze und Heidenstadt kreuzten sich zwei wichtige Verkehrsadern: eine alte Handelsstraße über Land und die damals noch schiffbare Sievener Aue. Die Heidenschanze, mit einem inneren Wall, der eine Fläche von rund 1 ha umschließt, sowie einem Außenwall, der zusätzlich eine rund 12 ha große Fläche schützt, diente vermutlich als Stapelplatz oder befestigter Markt, an dem auch in unruhigen Zeiten Handel getrieben werden konnte. Bebauungsspuren zeugen davon, dass die Waren vermutlich auch gegen den norddeutschen Dauerregen gut geschützt waren. Die Bewohner des Elbe-Weser-Dreiecks jedenfalls meinten es ernst mit dem Schutz: Die Heidenschanze gehört zu den bedeutendsten Befestigungsanlagen der römischen Kaiserzeit in Nordwestdeutschland. Deutlich kleiner, aber nicht minder befestigt erhob sich in Sichtweite die so genannte Heidenstadt mit einer Innenfläche von 220 m × 180 m.
Für alle, die den Vorgeschichtspfad Flögeln abgekürzt haben, wartet zum Abschluss das Bülzenbett, ein weiteres Megalithgrab aus der zweiten Hälfte des 4. Jt. v. Chr. Mit heute noch neun Trag- und drei Decksteinen ist es ein imposantes Denkmal. Angelegt von der Trichterbecherkultur diente der Basu auch der nachfolgenden Glockenbecherkultur noch als Bestattungsplatz für die Toten.Spätestens jetzt wird sich der Hunger melden. Abhilfe schaffen die atemberaubenden Torten im Café des MoorInformationsZentrum Ahrensmoor (MoorIZ). Dafür geht es nun Richtung Norden. Groß ist allerdings die Versuchung, auf dem Weg dorthin doch noch an dem einen oder anderen von der Straße sichtbaren Großsteingrab anzuhalten. Viele sind erst vor Kurzem aus dem Moor aufgetaucht. Denn die Torfschichten sind vergleichsweise jung: Als die Menschen der Trichterbecherkultur im Elbe-Weser-Dreieck lebten, wanderten sie noch auf dem Marschboden. Erst dann begannen die Hochmoore zu wachsen. Mit einer Geschwindigkeit von etwa 1 mm pro Jahr überdeckten sie langsam aber stetig die riesigen Steine. Erst durch die massiven Trockenlegungen der letzten Jahrhunderte begann das Moor wieder zu schrumpfen – und gibt nun ein Megalithgrab nach dem anderen wieder frei. Wie viele solcher Großsteingräber noch im Boden verborgen sind, weiß niemand so genau. Aber immer wieder stoßen Landwirte bei der Arbeit auf die Decksteine neuer Kammern, die Jahrhunderte lang vor Raubgräbern und unsachgemäßen Ausgrabungen sicher gewesen waren.
Das MoorIZ erzählt nicht nur in eindrucksvollen historischen Aufnahmen die Geschichte des Torfabbaus, sondern birgt im Obergeschoss noch eine ganz besondere Überraschung. Gestärkt von einem überdimensionalen Tortenstück geht es die Stufen hinauf bis unter’s Dach: Hier bedeckt eine riesige Satellitenkarte der Region den Boden. In bereitgestellten Filzpantoffeln kann man mit wenigen Schritten der Elbe bis Hamburg und der Weser bis Bremen folgen. Erst aus dieser Perspektive wird die Bedeutung der Landschaft und ihre im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Position mit Zugang zum Meer am Ende der alten Handelswege richtig deutlich.
Die Sachsen waren die letzten, die diese geografische Lage vollends zu ihrem Vorteil nutzten. Das Elbe-Weser-Dreieck gilt als ihr Kernland. Viele ihrer Toten brachten sie zu einem Hügel, der vom MoorIZ aus Richtung Wanna unweit der Straße auf einem Feld liegt und heute Gravenberg genannt wird. Darunter befindet sich vermutlich ein Megalithgrab aus der Jungsteinzeit. Darum herum aber liegen Tausende von Urnen aus sächsischer Zeit. Bis ins 5. Jh. verbrannten die Sachsen hier ihre Toten, füllten den Leichenbrand komplett mit Fibeln, Gürtelschnallen, kleinen Werkzeugen und manchmal sogar Waffen in Gefäße und vergruben sie im Schatten des Hügels. Findige Bauern wussten schon im 18. Jh., dass es sich lohnt, rund um den Gravenberg den Spaten in die Erde zu stecken – und so landeten die Grabbeigaben nur allzu oft in den Vitrinen dessen, der gerade am besten zahlen konnte. Einige liegen im Heimatmuseum von Wanna, andere haben es ins Museum der Burg Bederkesa geschafft, ein Großteil lagert die Elbe hinauf im Archäologischen Museum Hamburg-Harburg. Von der Kuppe des Gravenberges aus kann man schon die Fischhallen von Cuxhaven sehen, dahinter liegt die Nordsee. Der Wind trägt ihren Geruch herüber – voll von Salz und Fernweh und dem Versprechen einer besseren Welt. Am Ende folgten ihm die Sachsen. Sie setzten nach Britannien über und gaben dort den neuen Landschaften die Namen der alten Heimat: Middlesex für Mittelsachen oder Sussex für Südsachsen.
Wo die Geest bis an die Küste reicht
In Cuxhaven wartet die letzte Station der Tour durch die Geschichte des Elbe-Weser-Dreiecks. Nur wenige Meter vom Strand entfernt, in zweiter Reihe hinter den Ferienwohnungsanlagen, liegt in der Duhner Heide eine letzte Ringwallanlage. Sie ist eines der mysteriösesten Monumente dieser Landschaft. Trotz eingehender Untersuchungen zu Beginn des Jahrhunderts ist noch immer unklar, wer die Anlage – bestehend aus einem Hauptwall mit etwa 4 m Innendurchmesser, einem Vorwall und einem vorgelagerten Sohlgraben – vor rund 3500 Jahren am Übergang von der frühen zur späteren Bronzezeit errichtete. Und was die Motive dafür waren. Die archäologischen Spuren sprechen weder für eine befestigte Siedlung noch für einen kultischen Hintergrund. Merkwürdig ist außerdem, dass im Umfeld und sogar innerhalb des Hauptwalls vermutlich etwa zeitgleiche Grabhügel stehen, die aber keinen räumlichen Bezug zu der Ringwallanlage haben: Ringwall und Grabhügel ignorieren sich in ihrer jeweiligen Ausrichtung komplett. Mit dem Besuch der Ringwallanlage in der Duhner Heide ist das Ziel jedenfalls erreicht: die Nordsee. Doch nicht immer war hier das Ende. Einst lag dort das Doggerland. Vor rund 8200 Jahren versank es in den Tsunamiwellen des Storegga-Ereignisses. Was vom Doggerland übrig blieb, war lediglich die Spitze des höchsten Berges, die 70 km vor der Elbmündung noch heute aus dem Wasser ragt. Vergessen aber hatten die Menschen das Doggerland nicht. Noch Jahrtausende später, in der Jungsteinzeit, stiegen sie in ihre Boote und fuhren über die offene See zu diesem letzten Zeugnis der einst fruchtbaren Landschaft. Mit dem Katamaran sind es von Cuxhaven aus heute knapp drei Stunden bis Helgoland – wer die Zeit hat, sollte unbedingt hinfahren. In den hölzernen Schiffen der Jungsteinzeit war die Reise ein lebensgefährliches Wagnis. Den Beweis aber, dass die Menschen tatsächlich regelmäßig dort waren, haben wir zu Beginn des Ausflugs im Museum der Burg Bederkesa gesehen: Flint, rot wie Blut und einzigartig auf der ganzen Welt. Man kann vieles sagen über die Menschen im Elbe-Weser-Dreieck. Aber bestimmt nicht, dass sie Angst vor dem Wasser gehabt hätten, das in ihrem Leben allgegenwärtig war.