Von Karen Allihn
Auf der ersten Informationstafel ist sie genau zu erkennen, die jungsteinzeitliche Besiedlung des Kapellenbergs: gut an die 100 Hütten mit Satteldächern, zu lockeren Haufen gruppiert und untereinander durch ein Wegenetz verbunden. Durch Baumgruppen belebtes Grasland, ein großer Grabhügel im Zentrum, im Süden vier von Buschwerk eingehegte Felder. Um 3700 v. Chr. zog sich um die gesamte neolithische Niederlassung ein Wall, erfährt der Besucher am Beginn des archäologischen Wanderweges rund um den am Südhang des Taunus gelegenen Sporn. Die Befestigungslinie, in deren Schutz Bauern und Rinderzüchter lebten, umschloss eine gewaltige Fläche, die von Norden nach Süden 1300 und von Osten nach Westen 500 m misst: 24 ha bzw. ein 34 Fußballfelder fassendes Areal.
Wer die Tafel mit dem imaginierten Bild der neolithischen Ansiedlung gen Norden verlässt, kann bald – nachdem er die Revierförsterei und ein Wildgehege hinter sich gelassen hat – zum Plateau emporsteigen. Auf einer der 15 Stelen, auf denen der Wanderer in regelmäßigen Abständen Orientierung findet, steht nachzulesen, dass der Weg hier den Wall durchquert. Ein durchaus hilfreicher Hinweis, denn die Wehranlage ist an dieser Stelle nicht ohne Weiteres zu erkennen. Sie verläuft nahe der Geländekante und ist stark erodiert. Wer sich jedoch von diesem über die Jahrtausende verschliffenen Bild nicht abschrecken lässt, wird drei Wegstationen weiter reich belohnt.
Erhebt sich doch im Norden des Kapellenbergs der jungsteinzeitliche Wall noch heute deutlich im Gelände. Während die Hänge gen Westen und Süden steil ins Schwarzbachtal und nach Osten in die Ebene abfallen, verbindet im Norden ein Bergsattel das Plateau mit dem Lorsbacher Kopf. Eine Stelle also, die zu allen Zeiten besonders geschützt werden musste. Hier lässt sich noch heute auf der gut erhaltenen Wehranlage entlanglaufen, sind sogar noch Gräben zu erkennen.
Die technische Meisterleistung, die hier vor 6000 Jahren vollbracht wurde, verdient absolute Hochachtung. »Als dieser Wall errichtet wurde, hat es noch nicht einmal die ägyptischen Pyramiden gegeben«, gibt Detlef Gronenborn zu bedenken. Seit 2008 untersucht der Professor der Universität Mainz mit seinen Studenten den Kapellenberg. Das Römisch-Germanische Zentralmuseum Mainz, an dem er seit 2004 als Konservator tätig ist, hat den Höhenrücken in das Forschungsprojekt »Anfänge der Urbanisierung im Rhein-Main-Gebiet« einbezogen.
Grün schimmernde Jade
Ein paar Stationen weiter, am äußeren westlichen Wallabschnitt, können einige Ergebnisse dieser Untersuchungen nachvollzogen werden. Ein hier lokalisiertes Pfostenloch – diese für die Archäologie so überaus wichtige kreisrunde Verfärbung im Untergrund, das oftmals einzige Überbleibsel etwa eines hölzernen Pfeilers – erlaubt den Rückschluss auf eine Palisade, hinter der sich ein neolithischer Bogenschütze gut verbergen konnte. Wie das konkret ausgesehen haben könnte, vermittelt an dieser Station des Rundwegs eine Rekonstruktionszeichnung. »Wenig Funde – viel Fantasie«, bringt Gronenborn die Situation auf den Punkt. Denn während jungsteinzeitliche Keramikscherben auf dem Kapellenberg in Hülle und Fülle geborgen wurden, hält sich die Zahl der neolithischen Befunde, aber auch der Werkzeuge wie etwa Beilklingen oder Pfeilspitzen aus dieser Zeit in Grenzen.
Das berühmteste Fundstück, ein grün schimmerndes Jadebeil, kann zusammen mit einem Beil aus Amphibolit im Hofheimer Stadtmuseum bewundert werden. Beide stammen aus einem mächtigen Grabhügel, der einst 6 m hoch war. Anders als heute, wo diese Erhebung auf dem Kapellenberg kaum mehr im Gelände auszumachen ist und unscheinbar und versteckt im Wald liegt, war sie nach ihrer Aufschüttung weithin zu sehen. Genauso wie zwei weitere uralte Hügel des Kapellenbergs ragte sie als Denk- und Mahnmal hoch auf und war sicherlich auch von der Ebene aus zu erkennen.
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Entdeckt wurden die beiden Beile um 1890 beim Ausbau des Wegenetzes auf dem Kapellenberg. Auf dem damals angelegten Königsteiner Weg (auch Hohe Schneise genannt), der sich über die gesamte Länge des Höhenrückens zieht, erreicht der Wanderer wenig später den Meisterturm, 1895 in Holz errichtet, 1929 in Metall erneuert. Wer die 173 Stufen erklimmt, wird mit einer atemberaubenden Aussicht belohnt. Von hier aus schweift der Blick über eine einstige Römerstraße, die heutige A 66, bis zur Frankfurter Hochhauskulisse, an klaren Tagen sogar bis zum Odenwald. Vom Rhein-Main-Flughafen steigen Flugzeuge auf, die Schlote des Industrieparks Höchst entlassen weißen Rauch in die Atmosphäre.
Wer auf der 32 m hoch gelegenen Aussichtsplattform an Goethe oder Richard Wagner denkt, liegt falsch: Der Name des Turms hat weder mit »Wilhelm Meister« noch mit den »Meistersingern« zu tun. Das hoch aufragende Bauwerk wurde schlicht nach einem Landrat des preußischen Kreises Höchst, Wilhelm von Meister, benannt. Die Waldgaststätte zu seinen Füßen eignet sich für eine kleine Rast zwischendurch genauso wie für die größere Erholungspause nach absolviertem Rundweg. In diesem Falle trifft dann auch die hier auf einem Schild vermerkte Versicherung zu: »Sie haben Ihr Ziel erreicht.«
Wallfahrt über den Wall
Bevor der Wanderer nach dem anfänglichen Aufstieg auf das Plateau den nördlichen, so gut sichtbaren Wallabschnitt erreicht, passiert er noch das Königsteiner Kreuz. Dieses auf einem Sockel errichtete Kruzifix aus rotem Sandstein erinnert daran, dass die Menschheit nicht erst heute mit Pandemien zu kämpfen hat. Als 1666, 18 Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, die Pest rings um Hofheim wütete, gelobten die Bürger der Stadt, jährlich am ersten Sonntag im Juli eine Wallfahrt zu unternehmen, falls ihre Gemeinde von der Pest verschont bliebe. Ihre Gebete wurden erhört, die Gelübde bis heute nicht vergessen.
Noch immer kommen im Sommer Pilger aus Königstein und Hofheim sowie u. a. aus Hattersheim und Kriftel an dem 1792 gestifteten Kreuz vorüber und ziehen weiter zur Bergkapelle. Auch vom Vorplatz dieses Sakralbaus, auf dessen Areal sich im Mittelalter eine Eremitenklause befand, schweift der Blick weit ins Land. Von Osten aus führen 74 Stufen zur Kapelle empor – vorbei an Kopien barocker Kreuzwegstationen, Meisterwerke des Aschaffenburger Bildhauers Anton Wermerskirch aus dem Jahre 1701.
Rund um die Kapelle ist sie besonders dicht, die einzigartige Bewaldung des Kapellenbergs. Viele der mächtigen Eichen und Buchen sind um die 200 Jahre alt. Zu den Veteranen gehört auch die Schillereiche in der Nähe der Kapelle: Sie wurde 1859, zum 100. Geburtstag des damals in ganz Deutschland verehrten Dichters gepflanzt. Der heutige reiche Baumbestand, der schon allein einen Besuch des Kapellenberges lohnt, ist das Ergebnis intensiver und systematischer Aufforstung ab dem Beginn des 19. Jh. Hatte sich doch der Höhenrücken durch Holzhandel und Eichelmast ab der Mitte des 14. Jh. nach und nach in eine Buschlandschaft verwandelt. Für die extrem magere, felsige Südseite des Berges wurden laut einer Stadtrechnung von 1878 11 500 junge »Pinus«-Pflanzen erworben. Heute wächst hier, mitten im Rhein-Main-Gebiet, ein veritabler Pinienwald, in dem sich der Wanderer in den Süden Europas versetzt fühlt.
Wer gerade noch meint, hinter den Pinienkronen das Meer rauschen zu hören, erreicht stattdessen die nächste Station des Rundweges, den »Grauen Stein«. Dieser riesige Findling gehörte vor Jahrmillionen zu einer sich hier entlangziehenden Steilküste und erinnert daran, dass im Oligozän das Meer von Süden durch den Oberrheingraben bis in den Vordertaunus vordrang. Auch der weiße »Hofheimer Kies«, der überall auf dem Kapellenberg in Aufschlüssen oder am Wurzelwerk umgestürzter Bäume aufscheint, wurde damals in die ehemalige Küstenlandschaft eingeschwemmt. Das fest verbackene Strandgeröll, erklärt Gronenborn, sei ein stabiler Untergrund, dem die gute Erhaltung der neolithischen Wälle zu verdanken sei.
Pompeji der Steinzeit?
Vom »Grauen Stein« sind es nur ein paar Schritte bis zum dritten Aussichtspunkt des Kapellenbergs, dem 1910 errichteten Cohausen-Tempel. Von hier aus lässt sich fast ganz Hofheim überblicken. Der nach vorn offene Viereckbau mit gewölbtem Zeltdach erinnert an einen Archäologen, dessen Name eng mit der Erforschung des Höhenrückens verbunden ist. Carl August von Cohausen (1812 – 1894) beschrieb nicht nur als Erster die Wallanlage, sondern erkannte auch die Ähnlichkeit der hier geborgenen Keramik mit der vom Michaelsberg bei Karlsruhe. Dieser Fundort in der Nähe von Bruchsal hat der jungsteinzeitlichen Periode um 3700 v. Chr., in der der Kapellenberg besiedelt war, ihren Namen gegeben: Michelsberger Kultur. Auch der frühere Saalburg-Direktor Dietwulf Baatz und vor allem der Grabungstechniker und Restaurator Rolf Kubon haben sich intensiv mit dem Kapellenberg beschäftigt.
Kubon entdeckte 1975, genauso wie Gronenborn 44 Jahre später, auf dem Plateau einen Hausgrundriss. Im Sommer 2021 untersuchte der Mainzer Professor mit seinen Studierenden ein Areal nördlich des Meisterturms. Gern spricht Gronenborn vom Kapellenberg als einem »Pompeji der Steinzeit«. Bis zu 7000 Menschen könnten seiner Meinung nach vor 6000 Jahren hier gelebt haben. Leider hat sich in dem sauren Boden so gut wie kein Knochen erhalten. Doch wurde der Kapellenberg nach der Besiedlung im 4. Jt. v. Chr. nie mehr bebaut oder landwirtschaftlich genutzt. »Er bildet«, sagt Gronenborn, »für das Verständnis dieser großen Siedlungen aus der Jungsteinzeit ein unschätzbares Archiv«. Aus diesem Grund unterstützen auch die hessenArchäologie und der Magistrat der Stadt Hofheim Erforschung und Rundweg. Für einen virtuellen Rundgang über den Kapellenberg zu neolithischer Zeit, der im Stadtmuseum installiert werden soll, seien bereits »Mittel eingestellt«, kündigt Bürgermeister Christian Vogt an.
Das Auge Roms
Vom Cohausen-Tempel aus ist auch der etwa 2 km entfernte Gebäudekomplex des Hofheimer Landratsamts zu erkennen. Hier, auf dem Hochfeld, errichteten die Römer ab der zweiten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. ein Steinkastell mit Vicus und Gräberfeld.
An die römische Besatzung, die auch palisadenumwehrte Erdlager anlegte, erinnern heute nur noch ein Meilenstein an der Frankfurter Straße und eine Hinweistafel. Allerdings sind neue Ausgrabungsergebnisse zu erwarten, da auf dem Hochfeld Bauarbeiten geplant sind. Die bisherigen reichen Funde können im Stadtmuseum besichtigt werden. Die feine vielgestaltige Keramik, die hochdifferenzierten Metallwerkzeuge und das Pferdegeschirr, die Schwerter und Öllampen, Grabsteine und Fresken erzählen von einer Zeit, als die Römer Hofheim als Vorposten ausgebaut hatten. Dieser Ort war vom Mainzer Legionslager aus in einem Tagesmarsch zu erreichen. Als Etappenstopp einer Besatzungsmacht, die hart daran arbeitete, die Grenzlinie ihres Reiches nach Osten zu verschieben und sich das freie Germanien einzuverleiben, hatte er eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.
Hinter dem Pinienwald auf dem Kapellenberg wurden die Überreste eines hölzernen Wachturms entdeckt. Dieses »Auge Roms«, an das heute nur noch eine Erhebung sowie Wälle und Gräben im Gelände erinnern, diente um 40 bis 70 n. Chr. der Überwachung des Lorsbachtals, einer potenziellen Einfallsroute feindlicher Germanen. Dort, wo dieser Bau einst gestanden hat, kann man sich gut vorstellen, wie das Nachrichtensystem der Römer vom damals nicht bewaldeten Höhenzug hinunter ins Militärlager etwa mit Lichtsignalen funktioniert hat. Eine Rekonstruktion des einst wohl 15 m hohen Turmes durch die Stadt Hofheim werde erwogen, sagt die für Tourismus zuständige Mitarbeiterin Petra Fuchs.
Zehntscheune und Hexenturm
Vom Stadtmuseum mitten in der Hofheimer Altstadt sind es nur ein paar Schritte zu einigen steinernen Zeugen der mittelalterlichen Vergangenheit des Ortes. Vor dem Wasserschloss, dem ältesten Gebäude der Stadt, ist die einstige Stadtmauer, die nach der Verleihung des Stadtrechts an Hofheim 1352 errichtet wurde, im Straßenpflaster gekennzeichnet. Gen Westen setzt sich ihr Verlauf mit der Burggrabenzeile fort – einer Reihe von Fachwerkhäusern, die auf den Fundamenten der ehemaligen Umwehrung errichtet wurden. An anderen Stellen, etwa in der Stephanstraße und in der Mauergasse, sind noch ganze Teile der Stadtmauer erhalten.
Zu den historischen Gebäuden rund um das Stadtmuseum gehört auch der Hof Ehry, eine Hofreite aus einer früheren Zehntscheune, Ställen und einem ehemaligen Wohnhaus, genauso wie die 1425 / 26 errichtete Kellerei. Der Turm dieses ursprünglich als Marstall und Speicher und später als Amtshaus und Jagdschloss genutzten Gebäudes erinnert an ein finsteres Kapitel der Stadtgeschichte: Zwischen 1588 und 1602 wurden in Hofheim und Umgebung 23 Frauen der Hexerei angeklagt. Auf einer Tafel an dem einstigen Verlies stehen die Namen der hingerichteten Frauen. Und so gehen Elss Henrich Fürstens Frau, die Schmidtin, Anna Lorenz Glitzen, die Wolnstedter Elss und die anderen nicht als angeklagte Hexen in die Geschichte ein, sondern als Individuen, die den in religiösem Wahn entfesselten niederen Instinkten der Menschheit zum Opfer gefallen sind. Doch damit nicht genug. Am 3. November 2010 wurden diese Opfer vom Hofheimer Parlament einstimmig rehabilitiert.
Neues Geschichtsbewusstsein
Dass all die historischen Prachtbauten, die Fachwerkzeilen und die um kleine Plätze gruppierten mittelalterlichen Häuser noch heute existieren, ist der Bürgervereinigung Hofheimer Altstadt zu verdanken. Denn Anfang der 1960er-Jahre hätte nicht viel gefehlt, und das historische Zentrum wäre abgerissen und einer verkehrsgerechten Innenstadt aus gesichtslosen Neubauten gewichen. Ein etwas holpriger Vers am Balken eines Fachwerkbaus in der Nähe des Alten Rathauses steht für das neu gewonnene Geschichtsbewusstsein der Hofheimer Bürger: »Dieses Haus ist mein doch nicht mein / Der vor mir war dachte auch es wäre sein / er zog aus und ich zog ein / Nach meinem Tod wird es wieder so sein.«
Zeilen, die auch am Blauen Haus ihre Berechtigung hätten. Einen Blick auf dieses weit über die Grenzen der Stadt bekannte gelb getünchte Künstlerdomizil mit dem charakteristischen taubenblauen Fachwerk sollte der Hofheim-Besucher auf keinen Fall versäumen. Hier lebte von 1920 an die Malerin, Sammlerin und Kunsthändlerin Hanna Bekker vom Rath. Hier gingen expressionistische Maler wie Ludwig Meidner und Karl Schmidt-Rottluff ein und aus, hier versammelten sich Schriftsteller, Musiker, Schauspieler und Politiker. Als Hanna Bekker vom Rath 1983 starb, versäumte die Stadt jedoch, dieses Kleinod zu erwerben. Heute befindet es sich, glücklicherweise hervorragend gepflegt, in Privatbesitz und ist nur von der Straße aus zu bewundern, nicht aber zu besichtigen.
Einen Eindruck von dem vielseitigen Künstlerleben, das einst das Blaue Haus prägte, lässt sich dennoch gewinnen: im Erdgeschoss des Stadtmuseums. Hier sind in der Ausstellung »Kunstsammlung Hanna Bekker vom Rath und der Künstlerkreis des Blauen Hauses« neben Gemälden etwa von Ottilie W. Roederstein oder Karl Schmidt-Rottluff Hanna Bekkers »Weiße Kalla in blauer Vase« ebenso zu sehen wie ihr »Bäuerliches Anwesen im Wald« oder ihr Selbstporträt mit Hut von 1948. Sogar ein Blick auf die Rückseite des Blauen Hauses ist möglich: auf einer Fotografie von Marta Hoepffner.