«Georg Karo – Archäologe und Gentleman»

Von Kay Ehling

Georg Karo. Die Fotografie im Hintergrund zeigt den sog. Kritias-Knaben von der Akropolis, wenig vor 480 v. Chr.
Abb. 1 Georg Karo. Die Fotografie im Hintergrund zeigt den sog. Kritias-Knaben von der Akropolis, wenig vor 480 v. Chr.© nach G. Karo, Fünfzig Jahre aus dem Leben eines Archäologen, Baden-Baden 1959, S. 7 (Foto Nicolai Kästner, Staatliche Münzsammlung München)

Seine Zeit mit Stefan George und Percy Gothein (Teil II)

Georg Karo (1872–1963) war nicht nur der erste deutsche Archäologe, der sich ganz besonders der Erforschung der minoischen und mykenischen Kultur verschrieben hatte. Darüber hinaus trat er in seinen Hallenser Jahren als Verfasser zahlreicher Beiträge zur Kriegsschuldfrage in Erscheinung, etwa in den monarchistisch-rechtsnationalistisch ausgerichteten «Süddeutschen Monatsheften». Als Mensch kann man Karo «wohl als Genie der Freundschaft» bezeichnen (Jürgen von Ungern-Sternberg), der bis in den Stefan George-Kreis hinein vernetzt war.

Die Verbindung Georg Karos zu den «Süddeutschen Monatsheften» (s. Beitrag in AW 6/2019) dürfte durch seinen Freund Friedrich Wilhelm von Bissing zustande gekommen sein, der als eingeschworener Monarchist galt. Durch die umfangreichen Erinnerungen des Historikers Alexander von Müller, der 1910 Mitarbeiter der Monatshefte war und später von den Nationalsozialisten ins Amt des Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehievt wurde, können wir einen Blick in die Redaktion der Zeitschrift in der Münchner Königinstraße und ihr geistiges Milieu werfen. Karo und von Müller sind sich mehrfach begegnet. Die Zeitschrift wurde 1903/04 gegründet; ab 1905 stand ihr Paul Nikolaus Cossmann, der 1942 73jährig im KZ Theresienstadt ums Leben kommen sollte, als federführender Herausgeber vor. Die Eltern, sein Vater war der bekannte Cellovirtuose Bernhard Cossmann, zählten sich, wie Hans-Christof Kraus hervorhebt, «ausdrücklich zum nationalbewußten deutschen Judentum und erzogen ihre Kinder in diesem Sinne: die Überzeugung von der herausragenden Bedeutung deutscher Kultur sollte Paul Nikolaus Cossmann sein Leben lang prägen.» Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren die «Süddeutschen Monatshefte» weitgehend literarisch-kulturell und wissenschaftlich ausgerichtet. Bezeichnend ist, dass zwei bedeutende Künstler, der Maler Hans Thoma und der Komponist Hans Pfitzner, auf deren Wort Cossmann größten Wert legte, in der Redaktion mitwirkten. Für die frühen Jahrgänge der Monatshefte hatten gelegentlich Lujo Brentano, Ludwig Ganghofer, Hermann Hesse, Paul Heyse, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Ludwig Thoma und andere geschrieben. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges, so Kraus, änderte sich das Profil der Zeitschrift «radikal», und nach 1918/19 standen der Kampf gegen den Versailler Vertrag, die «Kriegsschuldlüge» und die Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes im Mittelpunkt. Betont werden muss allerdings, dass die in den «Süddeutschen Monatsheften» erfolgte Propagierung der böswilligen «Dolchstoßlegende», die bekanntlich besagt, dass das im Feld unbesiegte deutsche Heer durch die Agitation sozialistischer Gruppierungen «von hinten erdolcht» worden wäre und es durch deren «Wühlarbeit» zum Zusammenbruch Deutschlands gekommen sei, das politische Klima vergiftete und zur Destabilisierung der jungen Weimarer Republik beitrug. So wird man Redaktion und Mitarbeiter der Zeitschrift nicht von dem Vorwurf der Mitschuld am Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung freisprechen können.

Geistiger Krieg gegen Deutschland

Den Auftakt machte ein im Mai 1919 erschienener Aufsatz mit dem Titel Der Krieg der Wissenschaft gegen Deutschland. Mit heftigen Worten konstatiert und beklagt Karo darin das Ende der übernationalen Gelehrtenrepublik. Nachdem die deutschen und österreichischen Natur- und Geisteswissenschaftler schon 1914 aus den gelehrten Körperschaften Frankreichs ausgeschlossen worden wären, würde jetzt auch nach Kriegsende der feindliche Gelehrtenkrieg gegen die deutsche Wissenschaft – durch ihre anhaltende Isolierung – systematisch fortgesetzt. Verbittert und sehr persönlich merkt Karo an, er könne sich nicht vorstellen, zu den ehemaligen Freunden in Frankreich, England und Amerika so bald wieder Verbindung aufzunehmen, obwohl gerade er den größten Teil seines Lebens in Italien und Griechenland und längere Zeit in Frankreich und England verbracht «und sich stets bemüht» habe, «gegenseitiges Verständnis und Wohlwollen zwischen deutschen und ausländischen Fachgenossen und Instituten zu pflegen». 1926 erschien eine zusammenfassende Broschüre, die versöhnlichere Töne anschlug (Abb. 2). Die Situation hatte sich mit der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund verbessert. Im Jahr 1927 konnten auch deutsche Byzantinisten am Zweiten Internationalen Byzantinisten-Kongress in Belgrad bzw. Altertumswissenschaftler 1928 an dem ersten internationalen Etrusker-Kongress in Florenz teilnehmen. Auch Karo reiste aus diesem Anlass in die Stadt seiner Kindheit.

Der geistige Krieg gegen Deutschland von 1926. «Seit einigen Monaten machen sich im Lager der Entente Bestrebungen geltend, die auf ein Einlenken in wissenschaftlicher Beziehung deuten.»
Abb. 2 Der geistige Krieg gegen Deutschland von 1926. «Seit einigen Monaten machen sich im Lager der Entente Bestrebungen geltend, die auf ein Einlenken in wissenschaftlicher Beziehung deuten.» Nicolai Kästner, Staatliche Münzsammlung München

Christopher Clark hat die politische Krise, die zur Katastrophe des Jahres 1914 führte, als das «komplexeste() Ereignis der Moderne» bezeichnet. Quellenmaterial und Sekundärliteratur seien so umfangreich, dass kein einziger Historiker jemals hoffen könne, alles zu lesen. In Karos Schriften scheint Clarke nicht hineingeblättert zu haben, zumindest fehlen sie im Literaturverzeichnis seines bekannten Buches «Die Schlafwandler». Diese reihen sich in eine große Zahl vergleichbarer Publikationen ein. Der Archäologe sah in der Entlassung Bismarcks durch Wilhelm II. im Jahr 1890 die «ersten Anfänge des Krieges». In der Folge sei es zu einer wachsenden Entfremdung zwischen Deutschland und Russland gekommen. Durch das Bündnis zwischen Russland und Frankreich sei Deutschland zunehmend isoliert worden und hätte sich immer mehr mit Österreich-Ungarn als letztem Bundesgenossen zusammengetan. Die rücksichtslose Annexion von Bosnien und der Herzegowina durch die Regierung in Wien im Jahr 1908 habe Russland als Beschützer der panslawistischen Bewegung auf den Plan gerufen und es zum «Todfeind» Österreichs gemacht. Es seien Russlands Machthaber gewesen, die seit Jahren den Krieg geplant und vorbereitet hätten, «um den alten Kaisertraum von Byzanz» zu verwirklichen. Frankreich habe «seit 1870 den Revanchegedanken niemals aufgegeben» und den leitenden Staatsmännern Englands sei «jede Lösung recht» gewesen, «die sie von den gefährlichen deutschen Rivalen befreite». Soweit, knapp zusammengefasst, Karos Hauptgedanken seiner Schrift Die Verantwortung der Entente am Weltkrieg aus dem Jahr 1921.

Fragt man nach den letzten Ursachen des Ersten Weltkriegs so sind diese in der Balkanregion zu suchen und reichen in die Zeit des russisch-osmanischen Krieges (1877/78) zurück, in dem das Osmanische Reich große Teile seiner europäischen Besitzungen verlor. Hier entwickelten sich stark nationalistisch aufgeladene Unabhängigkeitsbewegungen nicht nur in Serbien, Bosnien, Herzegowina und Montenegro, die die Regierung von Österreich-Ungarn zurückzudrängen bzw. zu unterdrücken suchte, was zu Spannung mit Russland als Schutzmacht der slawischen Brüdervölker führte. So ist es denn auch kein Zufall, dass das Attentat von Sarajewo zum Auslöser des Krieges wurde. Gerade an diesem Ort fielen Ursachen und unmittelbarer Anlass des Krieges sozusagen räumlich zusammen. In dem aufgezeigten Spannungs- und Kräftefeld ergab sich dann der Große Krieg geradezu «zwangsläufig» durch die jeweiligen Bündnissysteme bedingt. – Was Karo nicht vermochte, war ein Perspektivwechsel. Nicht einmal ansatzweise versuchte er die Politik des Deutschen Reiches aus dem Blickwinkel der europäischen Großmächte des 19. Jhs., Russland, Frankreich und England, wahrzunehmen. Deutschland hatte nach dem Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71 und nicht zuletzt aufgrund der gewachsenen Dynamik seiner kapitalistischen Industriewirtschaft die Hegemonie über das westliche Kontinentaleuropa errungen und schickte sich nun an, durch eine forcierte Flottenpolitik, England die Vorherrschaft über die Meere streitig zu machen. Die alten Mächte wollten den Übergang Deutschlands in die Weltpolitik verhindern und so war es politisch nur konsequent, dass sich diese Staaten bündnismäßig gegen das Deutsche Reich zusammenschlossen.

Helene Wenck

Helene Emilie Wenck (1889–1976), die Großnichte von Heinrich Schliemann und spätere Lebensgefährtin und Ehefrau Karos, veröffentlichte 31jährig die Novelle «Das singende Meer», die dem Andenken an ihren Bruder Rudolf gewidmet ist (Abb. 3). Darin verarbeitet Wenck eigene Kriegseindrücke, die sie als Rotkreuz bzw. Soldatenheimschwester gesammelt hatte, und verbindet diese mit Elementen des Schauerromans. Die Novelle erschien 1920 im selben Jahr wie Ernst Jüngers «In Stahlgewittern». Wenck verherrlicht aber weder das Kriegsgeschehen an sich noch den Krieg im Allgemeinen. Es ist kein «Durchhaltebuch». Ihre Geschichte spielt sich geographisch abseits der großen Schauplätze ab und chronologisch am Ende des bereits verlorenen Krieges im Oktober 1918. Sie erzählt eine winzige Episode, die in keinster Weise kriegswichtig war, aber in doppelter Weise tragisch. Es geht um Dienst, Pflicht, Opfer. Der Bruder der Erzählerin, Kapitänleutnant auf der im Hafen von Odessa im Schwarzen Meer liegenden «Penelope», opfert sich für seine Mannschaft und findet nach einem Tauchgang den Tod. Aber: Wenn sein Tod auch vergebens war, so war er doch nicht sinnlos, das ist die «heroische» Botschaft der Novelle. – Da Deutschland den Krieg verloren hatte, und die Deutschen schwerster Verbrechen angeklagt wurden, war das Gedenken an die im Weltkrieg Gefallenen natürlich viel schwieriger als bei den Siegermächten. Mit der Novelle möchte Wenck ihren Lesern zu verstehen geben, dass auch der Tod ihrer eigenen Angehörigen die Kriegsniederlage nicht hat abwenden können, deren Schicksal aber dennoch nicht ohne Sinn war.

Abb. 3 «Das singende Meer». Wie liest man in postheroischen Zeiten ein Kriegsbuch? Der Große Krieg beherrschte in den Zwanziger Jahren in einem heute kaum mehr vorstellbaren Maße die Gemüter.
Abb. 3 «Das singende Meer». Wie liest man in postheroischen Zeiten ein Kriegsbuch? Der Große Krieg beherrschte in den Zwanziger Jahren in einem heute kaum mehr vorstellbaren Maße die Gemüter. Nicolai Kästner, Staatliche Münzsammlung München
 Abb. 4 Als der Roman «Ein Sommer mit Petra» 1939 in Deutschland erschien, waren Helene Wenck und Georg Karo schon auf der Flucht. Erzählt wird die Geschichte eines zwölfjährigen Mädchens, das sich in Griechenland von den Folgen eines Sturzes erholt und dabei Menschen, Landschaften und klassische Stätten kennen lernt.
Abb. 4 Als der Roman «Ein Sommer mit Petra» 1939 in Deutschland erschien, waren Helene Wenck und Georg Karo schon auf der Flucht. Erzählt wird die Geschichte eines zwölfjährigen Mädchens, das sich in Griechenland von den Folgen eines Sturzes erholt und dabei Menschen, Landschaften und klassische Stätten kennen lernt. Nicolai Kästner, Staatliche Münzsammlung München

Stefan George

Unvergesslich waren Karo die Begegnungen mit Stefan George. Noch im amerikanischen Exil erinnerte er sich daran, dass er zwei Mal mit dem Dichter zusammengekommen sei «und mit George unter vier Augen habe sprechen können». Dies war ihm «einer der tiefsten Eindrücke seines Lebens». Bei ihren Treffen im Januar 1921 und Dezember? 1922 sprach Karo über Griechenland und griechische Heiligtümer und stellte George die Frage, warum dieser «nie aus dem Griechischen übersetzt habe». George, dem das Lateinische wohl vertraut war und der bekanntlich Lyrik und Prosa aus dem Italienischen, Französischen und Englischen, ja sogar Dänischen und Holländischen übertragen hat, meinte, von diesen «Sprachen kenne er den Rhythmus, vom Griechischen aber nicht.» George sei völlig ohne Pose gewesen, so Karo, und habe über einen feinen Humor verfügt. Grund der beiden Zusammenkünfte war die weitere Ausbildung und Zukunft von Percy Gothein, dem Sohn von Eberhard und Marie Luise Gothein. Der Vater war Professor für Nationalökonomie in Heidelberg, die Mutter Verfasserin einer John Keats-Biographie und einer wiederholt aufgelegten «Geschichte der Gartenkunst». Karo hatte die Familie in seiner Bonner Privatdozentenzeit zwischen 1902 und 1905 näher kennen gelernt und war Percys Hauslehrer gewesen. Im September 1910 war George in Heidelberg zufällig auf den jungen Percy Gothein aufmerksam geworden. Doch nun wollten dessen Studium und innere Weiterentwicklung nicht in der gewünschten Weise vorankommen, deshalb die Gespräche zwischen dem Archäologen und dem Dichter.

Abb. 5 Wie ein griechisches Relief. Inszenierung von Percy Gothein als Verkörperung der deutschen Jugend. Jacob Hilsdorf machte im Dezember 1910 unter Anleitung Stefan Georges diese Aufnahme. Nicht martialisch-soldatisch, sondern ideal-romantisch im Samtgewand erscheint der Knabe im Übergang zum Jüngling.
Abb. 5 Wie ein griechisches Relief. Inszenierung von Percy Gothein als Verkörperung der deutschen Jugend. Jacob Hilsdorf machte im Dezember 1910 unter Anleitung Stefan Georges diese Aufnahme. Nicht martialisch-soldatisch, sondern ideal-romantisch im Samtgewand erscheint der Knabe im Übergang zum Jüngling. mit freundlicher Genehmigung des Stefan George Archivs, Stuttgart: StGA-Foto-0800

Nachdem George den jungen Gothein entdeckt hatte, bat er Friedrich Gundolf mit den Eltern in Verbindung zu treten, um die Erlaubnis für eine Photoaufnahme zu erwirken. Marie Luise Gothein sah dem Besuch des Dichters «mit Herzklopfen» entgegen, doch war George von so einfacher und ungesuchter Höflichkeit, dass alle Scheu rasch verflog. So entstand im Dezember 1910 unter der Regie Georges die gewünschte Aufnahme (Abb. 5). In der ersten Zeit war George von seinem Schützling mehr als angetan. Im Mai und September 1911 war der Junge für je ein Wochenende bei George in Bingen. Dem Dichter gefiel die wilde, jugendlich überhebliche Art des 14jährigen, sein makedonisch-skythisches Wesen. Doch gestaltete sich das Verhältnis bald zunehmend schwierig und unterlag Schwankungen. Obwohl sich Percy Gothein im August 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, «entließ» George den Schüler mit einem Gedicht aus seiner Obhut. Nachdem dieser am 15. Juni 1915 in Galizien einen Kopfschuss erlitten hatte, kam es zu einer Wiederannäherung. Vom weiteren Kriegsdienst freigestellt, konnte er in Heidelberg das Studium der Philosophie aufnehmen. George «liebte» Gotheins «Darstellungsfähigkeit», er «war ein prachtvoller Erzähler und Schilderer». Andererseits mochte er dessen Hang zur Grübelei und Seelenzergliederung nicht. Freundschaftlich war das Verhältnis noch ein Mal im Jahr 1919. Im Münchner Kugelzimmer in der Römerstraße erhielt Gothein meisterlichen Unterricht: Schönschrift, laut Lesen und Aufsagen von Gedichten sowie die Lektüre Platons standen auf dem Lehrplan. Beim Heidelberger Pfingsttreffen 1919 wurde er gemeinsam mit Erich Boehringer und Woldemar Graf von Uxkull-Gyllenband offiziell in den Kreis aufgenommen. Letzterer widmete Gothein seine Schrift «Frühgriechische Plastik».

Nach Kriegsende war Gothein wohl in Absprache mit Stefan George von der Philosophie zur Romanistik gewechselt mit Schwerpunkt auf Italienisch. Er zog von Universität zu Universität und überwarf sich bald mit jedem seiner Lehrer. So auch mit dem renommierten Romanisten Karl Voßler in München. In diese Zeit fallen die beiden Gespräche zwischen George und Karo in Berlin, die sich um Percy Gothein drehten, dessen Studium nur schleppend voranging. Schließlich wurde er 1923 im zweiten Anlauf bei Leonardo Olschki in Heidelberg mit der Arbeit «Die antiken Reminiszenzen in den Chansons de Geste» rite promoviert. Ohne echte wissenschaftliche Begabung sollte er dennoch der neuen Politik des George-Kreises entsprechend – «Bewährungsprobe Wissenschaft» (Stephan Schlak) – als nächstes die Habilitation und eine Universitätslaufbahn anstreben. Auch dabei ging es nicht recht voran. Wie Georg Peter Landmann überliefert, hatte Karo den Dichter deshalb im Juni 1925 um eine weitere Besprechung in Sachen Percy gebeten, allerdings vergebens, so dass er sich mit einem längeren Brief an George wandte. Am 17. Juni 1925 schreibt Karo aus Halle: «Hochverehrter Meister. Wollen Sie mir verzeihen, wenn ich Sie mit einer Frage und einer Bitte behellige. Beide betreffen Percy Gothein. Sie wissen dass er während der letzten zwei Jahre kaum Fortschritte gemacht und nur rite promoviert hat – auch dieser sehr bedingte Erfolg war im Wesentlichen der Verehrung zuzuschreiben, die sein Vater in Heidelberg genoss. Inzwischen haben Clemen und ich Percy ein Reisestipendium der Notgemeinschaft verschafft, das ihm gestattet hätte, bei bescheidener Lebensführung ein Jahr lang an seiner Habilitationsschrift zu arbeiten und sich im Italienischen auszubilden. Ich fürchte, dass er keines von Beidem ausreichend betrieben hat; jedenfalls aber muss er schon in diesen Tagen, also lange vor Ablauf der Jahresfrist, nach Heidelberg zurückgekehrt sein […]. Nach langem Überlegen erscheint mir der einzige aussichtsreiche Weg der zu sein, dass Percy nach Kiel gehe und dort in der festen Zucht von Wolters seine Habilitation vorbereite. Nur eine ganz starke Persönlichkeit kann als Ihr Beauftragter ihn bezwingen, ihn gegen sein eigenes ungeberdiges Temperament schützen und von seinen falschen Freunden abbringen.» Karos Bemerkung über die «falschen Freunde()» ist wohl auch als Hinweis auf Gotheins mehr oder weniger offen gelebte Homosexualität zu verstehen, die für George zum kompromittierenden Problem wurde. Letztlich hatte der Dichter Gothein abgeschrieben und warnte vor ihm, wie Ludwig Thormaehlen überliefert, mit den Worten: «Laßt die Finger von diesem Percy! Wenn ich ihm nicht helfen kann und konnte, ihr könnt es gewiß nicht. Dem ist nicht zu helfen.» Und so ließ George in seinem Antwortschreiben vom 5. Juli 1925 Karo wissen, er stimme ihm in allen «einzelheiten» zu, hielte aber «das heilmittel P. nach Kiel zu bringen» für ungeeignet. Der wahre Grund für diese Einschätzung wird gewesen sein, dass George seine «Staatsstütze» Friedrich Wolters nicht durch die Anwesenheit Gotheins in Kiel belasten wollte. Der von Karo an George beobachtete «feine Humor» konnte unter Umständen in kalten Zynismus umschlagen. So lautet die vielleicht allerletzte Bemerkung des Dichters über den einst bestaunten Jüngling: «Früher hat man einem solchen Menschen ein paar hundert Mark in die Hand gedrückt und gesagt, geh übers große Wasser und verschwinde!» Percy Gothein starb zwei Tage vor Weihnachten 1944 im KZ Neuengamme.

Ausblick: «Was auch komme, wir müssen sehen, wie wir unser Schiffchen durch die Wogen steuern.» Stefan George

Archäologischen Instituts nach Athen zurück, mit ihm Helene Wenck. Dienstlich begleitete er Hermann Göring und seine Entourage im Jahr 1934 nach Delphi und durch die Argolis, nicht ohne Staunen und die Hoffnung, davon zu profitieren. Ein halbes Jahr vor Erreichen der regulären Pensionsgrenze wurde der Archäologe zum 1. Oktober 1936 in den Ruhestand versetzt. In München pflegte er seine schwerstkranke Stiefschwester; nach deren Tod, Ende 1938, konnten Karo und Wenck ihre Emigration aus Deutschland vorbereiten. An Friedrich Matz übergab er im Frühjahr 1939 seinen schon in Fahnen gesetzten Beitrag für das «Handbuch der Archäologie», für Matz im Rückblick einer der bewegendsten Momente seines Lebens. Mit Unterstützung des griechischen Königshauses führte die Flucht über Italien und Griechenland in die USA, wo er in Ohio mit Hilfe von Freunden erst in Cincinetti, dann am Oberlin College eine bescheidene Anstellung fand. Am 24. April 1940 heirateten Wenck und Karo. Seit 1942 stand dieser als vermeintlicher Sympathisant des NS-Regimes unter Spionageverdacht und wurde bis nach Kriegsende von den amerikanischen Behörden überwacht. In dieser Zeit lernte der junge Literaturwissenschaftler Werner Vordtriede den Archäologen kennen und notierte unter dem 2. April 1942 in sein Tagebuch: «Karo sprach über Lepsius, von den Steinen, Andrian, Rudolf Borchardt, die er alle gut kannte. Es ist bemerkenswert, mit wie wenig Nostalgie Karo von seinem vielfachen Leben erzählen kann, mit wieviel Heiterkeit und ausgeglichner Freude am einst Besessenen.» Nach verschiedenen Stationen an der State University of Iowa und dem Pomona College im kalifornischen Claremont kehrten die Karos 1952 nach Klärung der Pensionsansprüche nach Deutschland zurück. In Freiburg begann Karo mit seinen Erinnerungen. Dass diese abgesehen von seinem Dank an die hilfsbereiten Griechen des Jahres 1939 mit dem Jahr 1918 enden, ist kein Zufall. Er hätte im Folgenden auf Dinge zu sprechen kommen müssen, die er Ende der Fünfziger Jahre anders beurteilte als 1921. Damals hatte er an den Präsidenten des Deutschen Archäologischen Instituts Theodor Wiegand geschrieben, dass «sinnlose Grausamkeit» nicht im deutschen Wesen läge. Spätestens der furchtbare Zweite Weltkrieg und die gnadenlose Vernichtungspolitik in den Konzentrationslagern hatten ihn eines Besseren belehrt. Inzwischen sah er die eigene Rolle bei der Diskussion der Kriegsschuldfrage und seine anfängliche Zustimmung zu dem erstarkenden nationalsozialistischen Deutschland offenbar kritischer. Auch fühlte er sich nun frei, sich zu seiner jüdischen Herkunft zu bekennen.

Abb. 6 Heidelberger Pfingsttreffen 1919. Stehend als zweiter von links der spätere Althistoriker Woldemar Graf von Uxkull-Gyllenband, daneben der spätere klassische Archäologe Erich Boehringer und als zweiter von rechts Percy Gothein. Stefan George außen links sitzend.
Abb. 6 Heidelberger Pfingsttreffen 1919. Stehend als zweiter von links der spätere Althistoriker Woldemar Graf von Uxkull-Gyllenband, daneben der spätere klassische Archäologe Erich Boehringer und als zweiter von rechts Percy Gothein. Stefan George außen links sitzend. nach R. Boehringer, Mein Bild von Stefan George, München – Düsseldorf 1951, Taf. 131

Adresse des Autors

Prof. Dr. Kay Ehling
Oberkonservator
Staatliche Münzsammlung München
Residenz
Residenzstr. 1
D-80333 München

Literatur

Ch. CLARK, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog (2013).
J. EGYPTIEN, Stefan George. Dichter und Prophet (2019).
K. D. ERDMANN, Der Erste Weltkrieg (Gebhardt Handbuch der deutschen
Geschichte 18) (101997).
M. L. GOTHEIN, Eberhard Gothein. Ein Lebensbild seinen Briefen nacherzählt (1931).
A. VON MÜLLER, Mars und Venus. Erinnerungen 1914–1919 (1954).
F. MATZ, Georg Karo †, Gnomon 36 (1964) 637–640.
H.-Ch. KRAUS, Kulturkonservativismus und Dolchstoßlegende. Die «Süddeutschen Monatshefte» 1904–1936, in: Ders. (Hg.), Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur (Studien und Texte zur Erforschung des Konservativismus 4, 2003) 13–43.
S. SCHLAK, Der motorisierte Percy Gothein, in: B. SCHLIEBEN – O. SCHNEIDER – K. SCHULMEYER (Hg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft (2004) 331–341.
L. THORMAELEN, Erinnerungen an Stefan George (1962).
J. VON UNGERN-STERNBERG, Les chers ennemis. Deutsche und französische Altertumswissenschaftler in Rivalität und Zusammenarbeit (Collegium Beatus Rhenanus 7, 2017) 203–245.
W. VORDTRIEDE, Das verlassene Haus. Tagebuch aus dem amerikanischen Exil 1938–1947 (2002).

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Antike Welt. Zeitschrift für Archäologie und Kulturgeschichte 6/2019

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