Gestalten der Wahrheit
(Gebundene Ausgabe)
Carl Julius Mildes Porträtzeichnungen von Psychiatriepatienten
- wbg Academic in der Verlag Herder GmbH
- 1. Auflage 2025
- Gebunden
- 392 Seiten
- ISBN: 978-3-534-64149-9
- Bestellnummer: P3641495
Individuen entziehen sich der Stereotypisierung
Die Lübecker Museen beherbergen einen bis dato nicht gehobenen Schatz der Kunst- und Medizingeschichte. Die über 70 Porträts von Patienten der sogenannten Irrenabteilung des Allgemeinen Hamburger Krankenhauses St. Georg erzählen einen Teil Psychiatriegeschichte und sind eine besondere Herausforderung für die Kunstgeschichte. Sie agieren an der Schnittstelle zwischen Kunst und Medizin.
Gezeichnet wurden die Porträts zwischen 1828 und 1838 vor allem durch den Künstler Carl Julius Milde (1803–1875). Die im Auftrag der Ärzte im Krankenhaus angefertigten Bildnisse sollten psychische Erkrankungen im Gesicht lesbar machen. Anhand physiognomischer und pathognomischer Merkmale sollte so ein Klassifizierungssystem psychischer Erkrankungen generiert werden. Die Hamburger Auftraggeber sind damit verbunden mit einer internationalen Gemeinschaft von forschenden, psychiatrisch arbeitenden Ärzten. Die Psychiatrie stand zum Entstehungszeitpunkt der Zeichnungen noch am Anfang ihrer Verwissenschaftlichung und die Akteure waren auf der Suche nach entsprechenden Klassifizierungssystemen für psychische Erkrankungen. Die mit äußerster Akribie und Einfühlungsvermögen gezeichneten Porträts erfüllen den Auftrag der Stereotypisierung nicht, scheinen daher unbrauchbar für die Absichten der Mediziner. Mit ihrer eindringlichen Individualität erschüttern sie unmittelbar und präsentieren ihr eigentliches Thema: das Menschsein an sich!
Die Studie widmet sich der kunsthistorischen Verortung der Porträts. Leitend ist dabei das von den Nazarenern geprägte und bis weit in die Romantik gültige Konzept von Wahrheit im Bild. Gegenübergestellt wird der Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität. Die Porträtzeichnungen lösen die beiden scheinbar gegensätzlichen Konzepte ein. Wie ihnen das gelingt, ist die leitende Fragestellung der vorliegenden Studie. Dabei ist auch von Interesse, welche Entwicklungslinien der Psychiatrie die Entstehung begleiten und welche weiteren Porträtserien in Anstalten entstanden und wie diese im Vergleich mit den Lübecker Zeichnungen einzuordnen sind. Den Abschluss der Arbeit bilden kunstphilosophische Überlegungen hinsichtlich der Lesbarkeit der Porträts als Zeichensystem.
Autorin
Julia Diekmann begann nach einer kaufmännischen Ausbildung und Berufstätigkeit ab 2008 ein Studium der Kunstgeschichte und Italianistik 2008 in Göttingen. 2014 folgte der Erwerb des Master of Arts, sowie Forschungsarbeiten zur Dissertation, die der vorliegenden Studie zugrunde liegen. Mit einer Förderung durch das Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) erfolgt die Promotion erfolgte im Mai 2020. Die Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen mit dem Christian-Gottlob-Heyne-Preises für die beste geisteswissenschaftliche Dissertation des akademischen Jahres 2020/21 ausgezeichnet. Ab 2018 war Julia Diekmann als leitende Kuratorin des Forums Jacob Pins in Höxter tätig. 2019 konnte im Behnhaus-Drägerhaus in Lübeck eine Ausstellung des gesamten Forschungskonvoluts gezeigt werden, die auf den Forschungsergebnissen der Autorin beruhte und von ihr mit kuratiert wurde. Heute arbeitet sie als Lehrerin für Kunst und Geschichte am Internat Solling.