Weshalb ist bei Kindern das letzte Jahr vor dem Eintritt in die Grundschule aus entwicklungspsychologischer Sicht spannend zu beobachten?
Sabina Pauen: Weil Kinder in dieser Phase Fertigkeiten entwickeln, die sie später wieder abrufen müssen. Also z. B. eine Zeit lang konzentriert an einer Sache zu arbeiten. Oder Techniken, wie mit einem Stift umgehen zu können. Aber sie entwickeln auch soziale Fähigkeiten sowie eine gewisse Selbstständigkeit. Zu Ersteren gehört bspw., dass sich ein Kind einen Moment zurücknehmen kann, wie beim Melden in der Schule. Und zu Letzterem, dass ein Kind seinen Schulweg allein gehen oder nach dem Unterricht seine Sachen selbstständig einpacken kann. Damit Kinder in der Schule nicht überfordert sind, ist es gut, wenn sie all das schon vorher gelernt haben. Und es ist spannend, mitzuerleben, inwieweit bei jedem Kind diese Kompetenzen bereits ausgeprägt sind.
Was halten Sie persönlich für wichtig, was ein Kind bis zu seiner Einschulung wissen, können und erfahren haben sollte?
Sabina Pauen: Vor allem soziale Kompetenzen. Bereit zu sein, sich in einer Gruppe einzufinden und mit einer Gruppe zu lernen, finde ich sehr wichtig. Ein Kind wird es in der Schule viel leichter haben, wenn es in der Lage ist, sich in Gruppenprozesse einzuordnen – also abwarten, zuhören oder einen Moment still am Platz sitzen zu können. Wenn ein Kind das nicht kann, dann funktionieren auch viele andere Dinge nicht so gut.
Anfang des Jahres haben Sie eine Fernsehdokumentation über Kinder im fünften und sechsten Lebensjahr wissenschaftlich begleitet. Was haben Sie dabei gelernt?
Sabina Pauen: Teilgenommen haben dabei auch Kinder, die schon in der Schule und somit eigentlich ein Jahr weiter waren als die Kita-Kinder. Trotzdem haben sie sich hervorragend in der Kita-Gruppe eingefunden. In der Schule hatten sie aber noch Schwierigkeiten – und zwar aus dem Grund, den ich eben geschildert habe: Der strukturierte Schulalltag fiel ihnen noch schwer, in der freieren Umgebung der Kita waren sie im Vergleich dazu lebendiger und konnten sich gut auf alles einlassen. Diese Diskrepanz, dass ein Kind in einem Setting wunderbar „funktionieren“ kann und trotzdem in einem anderen Setting mit Schwierigkeiten kämpft, das war für mich eine sehr wichtige Einsicht. Die Wahrnehmung eines Kindes gestaltet sich völlig unterschiedlich – je nachdem, ob ich es als Erzieher/-in in der Kita oder als Lehrer/-in in der Schule erlebe.
Vita
DR. SABINA PAUEN ist Professorin an der Universität Heidelberg und leitet den Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie und biologische Psychologie.