klasseKinder!: Frau Thümmler, in den letzten Monaten wurde viel über Gewalt an Grundschulen berichtet. Ist die Situation wirklich schlimmer geworden?
Ramona Thümmler: Es ist nicht unbedingt in der Fläche mehr geworden, aber es trifft zu, dass die Gewalt sich verändert hat. Cybermobbing gab es früher nicht. Auch auf den Schulhöfen ist teilweise die Gewalt etwas roher. Wenn man sich Studien ansieht, zeigt sich aber, dass es insgesamt nicht mehr Gewalt gibt. Wir sind als Gesellschaft sensibler geworden. Wir schauen genauer hin – und das ist gut.
Was versteckt sich hinter der Formulierung „herausforderndes Verhalten“ – welche Probleme, welche Phänomene, welche Kinder?
Wenn wir von herausforderndem Verhalten reden, dann meinen wir Kinder, die laut sind und sich schlecht konzen trieren können. Aber auch Kinder, die unter familiären Belastungen wie Trennung oder Armut leiden. Oder Kinder, die zwanghaftes Verhalten zeigen, die ganz viel Struktur brauchen. Eine weitere große Gruppe sind Kinder, die psychisch belastete oder körperlich erkrankte Eltern haben. Die Welt dieser Kinder gerät häufig völlig aus den Fugen. Dann gibt es Kinder, denen soziale Kompetenzen fehlen. Sie stehen während des Schultags permanent unter Stress. Was wir dann sehen, sind störendes Verhalten, unerledigte Hausaufgaben, Streit. Eigentlich stehen dahinter die inneren Belastungen der Kinder.
Bei der Fülle an möglichen Ursachen – wie erkennt eine Fachkraft, welche Hilfe das einzelne Kind braucht?
Wichtig ist zunächst: Alle Kinder haben Bedürfnisse. Kinder brauchen Zuneigung, Aufmerksamkeit, kognitiven Input, einen ausgeglichenen Tagesablauf, Beschäftigung, Weiterentwicklung und Gemeinschaft. Wenn unsere pädagogischen Angebote das unzureichend erfüllen, kann es sein, dass Kinder den Rahmen sprengen. Manche Kinder sind nicht in der Lage, ihr Verhalten zu steuern; sie geraten schnell in emotionale oder soziale Überforderungssituationen. Pädagoginnen und Pädagogen sollten das keinesfalls als ‚unerzogen‘ wahrnehmen oder als persönlichen Angriff deuten, sondern einen Blick für das Kind entwickeln.
Sind die Horte auf das komplexe Thema ausreichend vorbereitet? Reicht es, wenn Teams entsprechende Fortbildungen machen?
Mit Fortbildungen ist schon viel gewonnen! Anschließend sollte jedes Team sich überlegen: Wie können wir das Wissen im Alltag anwenden? Wer soll Ansprechpartner für welche Problematik sein? Welche externen Ansprechpartner ziehen wir hinzu? Wichtig ist, dass Strukturen vor Ort aufgebaut werden, die dann unabhängig vom Einzelfall vorhanden sind und schnell genutzt werden können.
Arbeiten schulinterne und -externe Fachleute bereits gut zusammen?
Wir haben in unseren Studien festgestellt, dass es häufig vom Engagement einzelner Fachkräfte abhängt, ob ein Kind angemessen begleitet wird. Hilfe darf aber nicht vom Zufall abhängen! Ich plädiere daher ausdrücklich für multiprofessionelle Teams in pädagogischen Einrichtungen, die sich aus verschiedenen Fachkräften wie Lehrkräften, Sonder- und Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Kindheitspädagoginnen und -pädagogen, Erzieherinnen und Erziehern zusammensetzen. Darüber hinaus braucht es aufgebaute Netzwerke mit Institutionen wie Beratungsstellen, Therapeuten, der Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sind diese Kontakte einmal geknüpft, kann ich zum einen besser die passende Unterstützung empfehlen, zum anderen ist die Hemmschwelle zur Kontaktaufnahme viel geringer – und das Kind bekommt schneller Hilfe.
Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit von Schulen und Jugendämtern?
Wir haben in Deutschland ein sehr gutes Unterstützungssystem für Familien. Leider beobachten wir bei vielen Menschen immer noch Vorbehalte gegenüber der Jugendhilfe. Auch hier wird es einfacher, wenn Kontakte ganz selbstverständlich bestehen, wenn Ansprechpartner und Angebote bekannt sind. Der Hort oder die Tagesgruppen können dabei ein verbindender Link sein. Wenn schwierige Fälle auftreten, ist es hilfreich, alle für eine Fallbesprechung an einen Tisch zu holen. Manchmal löst sich dadurch schon der Knoten. Wichtig ist: Eine Person allein löst das Problem nicht! Es geht immer um die Zusammenarbeit. Wer kann was anbieten und was ist der sinnvolle nächste Schritt?
Was, wenn sich einzelne Teammitglieder gegen Fortbildungen oder Vernetzungen sträuben?
Schwierig wird es dann, wenn wir bei Fachkräften auf verfestigte, subjektive Theorien stoßen. Wenn jemand meint: Früher war alles besser und heute kann man sowieso nichts machen. Wir wissen mittlerweile sehr viel über die Bedürfnisse von Kindern und es stehen gute Methoden zur Entwicklung von sozialen und emotionalen Kompetenzen zur Verfügung. Es ist Verschwendung von Potenzial, wenn wir das nicht nutzen. Außerdem greifen Pädagoginnen und Pädagogen leider in Krisenzeiten oft auf eigene Erfahrungen zurück. Wenn Sie früher eine Lehrerin hatten, die Sie gedemütigt und angeschrien hat, kann es sein, dass Sie genau dieses Verhalten in einer belastenden Situation reaktivieren. Wider besseres Wissen und entgegen allen guten Absichten! Hier ist es wichtig, das Team einzubinden, auf Supervision oder kollegiale Beratung zurückzugreifen, um gezielt gegenzusteuern. Selbstreflexion schafft neue Möglichkeiten.
Sind Horte und Ganztagsgrundschulen überhaupt entsprechend ausgestattet, um Kinder mit den vielfältigen Problemen, die Sie eingangs aufgezählt haben, bestmöglich aufzufangen?
Nein, auf keinen Fall. Wir brauchen mehr gut ausgebildete Fachkräfte, mehr Professionen, mehr Ressourcen für Raumgestaltung, gesundes Essen, pädagogisch wertvolle Ausgestaltung der Institutionen und noch vieles mehr. In der Grundschule haben wir alle Kinder beisammen, das ist eine große Chance. Unser Ziel muss sein, die Kinder in diesen ersten Jahren für ihr Leben stark zu machen und sie dafür zu begeistern, was pädagogische Institutionen ihnen zu bieten haben.
Das Gespräch führe Astrid Herbold.