Sind Sie nur beliebt oder werden Sie auch respektiert?

Im Team beliebt zu sein, hat viele Vorteile. Aber wenn man ständig damit beschäftigt ist, auf der Beliebtheitsskala ganz oben zu stehen, kippt die ganze Sache ins Negative.

Sind Sie nur beliebt oder werden Sie auch respektiert?
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Heidrun war mir auf Anhieb sympathisch. Ich lernte sie in einem meiner Kommunikationstrainings kennen. Dort wollte sie lernen, besser mit anderen Leuten zu reden. Für mich war ihr Wunsch anfangs etwas unverständlich. Denn Heidrun hatte die Gabe, sich schnell und überall beliebt zu machen. Sie kam schnell mit den anderen Teilnehmern in Kontakt und hatte für jeden ein freundliches Wort, eine hilfreiche Bemerkung.

Aber leider fehlte ihr das Gegenstück dazu. Sie selbst beschrieb das so: „Wenn ich mal streng sein will oder Härte zeigen muss, bin ich total gehemmt. Letztens hat ein Kollege meinen vollen Kaffeebecher genommen und ausgetrunken. Ich fand das unverschämt. Aber anstatt ihm das zu sagen, habe ich ihn nur gefragt, was das soll. Er hat gelacht und mich Mäuschen genannt. Ich traue mich nicht, meinen Ärger zu zeigen oder anderen Leuten zu sagen, dass jetzt Schluss ist.“ Heidruns Beliebtheit beruhte zum Teil darauf, dass sie empathisch und einfühlsam auf andere Menschen einging. Aber andererseits war sie auch deshalb beliebt, weil sie so wenig Rückgrat zeigte. Von ihr gab es nie ein böses Wort, nie eine hartnäckige Gegenmeinung. Es war fast so, als würde sie einseitig nur auf einem Bein stehen, dem Bein des Beliebtseins. Ihr anderes Bein, das Bein des Eigensinns, war unterentwickelt und litt an Muskelschwäche. Heidrun spürte, dass sie nicht in Balance war. Sie hinkte auf einem Bein, anstatt mit beiden Beinen würdevoll zu gehen.

DIE KOMPETENZ, SICH DURCHZUSETZEN

Bei anderen Menschen gut anzukommen und beliebt zu sein, ist zweifellos eine Gabe und auch eine Kompetenz. Aber das Ganze wird zu einem Gefängnis, wenn es einseitig wird. Wir brauchen auch die gegenteilige Kompetenz, mit der wir Unverschämtheiten streng zurückzuweisen, mit der wir widersprechen und uns durchsetzen können. Kurzum: Wir brauchen unseren Eigensinn. Und wer eigensinnig ist, ist nicht immer beliebt.
Hart aufzutreten, bei Widerständen nicht gleich einzuknicken – das fiel Heidrun sehr schwer. Ich bot ihr an, genau diese Fähigkeiten mit ihr zu trainieren. Im Rollenspiel war ich ihr Kollege, der sie Mäuschen nannte und ihren Kaffee austrank. Heidruns Rolle bestand darin, mich zu stoppen. Und zwar streng, gern auch ärgerlich. Im ersten Anlauf war sie viel zu schwach und auch zu freundlich. „Ach, komm! Lass das bitte“, sagte sie mit einem charmanten Lächeln im Gesicht. Ich, in meiner Rolle als ihr Kollege, konnte es mir nicht verkneifen, meine Überlegenheit auszuspielen: „Mäuschen, nun stell dich nicht so an. Ist doch alles gut.“ Heidrun sackte in sich zusammen. Das war das bekannte Muster. Um sich durchzusetzen, brauchte Heidrun eindeutig mehr Kraft und mehr Entschlossenheit. Nach ein paar Übungsrunden war sie bereit, energisch aufzutreten und ihre ganze Stärke zu zeigen.
Dieses Mal ging sie in eine aufrechte Körperhaltung und schaute mich ohne ein Lächeln an. Mit lauter Stimme stoppte sie mich: „Sag mal, spinnst du?! Hör auf damit! Sofort!“ Ich war verblüfft: „Mäuschen, was ist mit dir los? Hast du heute einen Feldwebel gefrühstückt?“
Heidrun blieb standhaft und ließ sich auf keine Debatte ein: „Ich will nicht, dass du meinen Kaffee trinkst. Und nenn mich nicht Mäuschen.“ Jetzt sah sie so aus, als würde sie jedem und allem die Stirn bieten.

Nach dieser Übung war sie erschöpft. „Ich habe immer noch ein wenig Angst davor, dass die anderen denken, ich wäre eine Zicke, wenn ich mich so aufführe.“ Da war sie wieder: Heidruns Angst davor, nicht mehr beliebt zu sein, wenn sie ärgerlich wird oder Klartext redet. Deshalb war sie im Laufe der Jahre mit diesem Standbein in einen Übungsrückstand geraten. Aber damit war jetzt Schluss. Heidrun wollte aus ihrem Beliebtheits-Gefängnis rauskommen. Ihr neues Motto lautete: Ich sage jetzt laut und deutlich, was mir wichtig ist. Und dabei ist es mir egal, was andere über mich denken.
Nein, es geht nicht darum, ins Gegenteil zu verfallen und die eigene Meinung gegen jede Logik mit aller Gewalt durchzusetzen. Das wäre auch ein Gefängnis, eine neue Einseitigkeit. Es geht darum, beides zu können: Eine gute Wellenlänge mit anderen Leuten aufzubauen, aber auch Rückgrat zu zeigen, wenn es darauf ankommt. So können wir auf beiden Beinen stabil durchs Leben gehen, statt nur auf einem Bein zu hinken.
Für Heidrun war das eine neue Perspektive. Am Ende des Seminars war sie optimistisch: „Ich werde mich durchsetzen, wenn mir eine Sache wichtig ist. Und vielleicht mache ich mich damit unbeliebt. Aber mir ist klar geworden, was ich wirklich will. Statt immer nur beliebt zu sein, möchte ich in Zukunft mehr respektiert werden.“  

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