Im offenen Ganztag kommen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den unterschiedlichsten beruflichen Hintergründen und persönlichen Biografien zusammen. Jede Fachkraft bringt ihre eigene Berufs- und Lebensgeschichte samt individuellen Erlebnissen und Erfahrungen mit – und das alles prägt und beeinflusst auch ihr pädagogisches Denken und Handeln. Im Alltag stoßen dann nicht selten unterschiedliche Auffassungen aufeinander. Hier kann ein reflektierender Blick auf die eigene Biografie oder die der anderen weiterhelfen.
Ein Praxisbeispiel: In der Dienstbesprechung wird über eine Entscheidung von zwei Kolleginnen diskutiert, die sich über eine gemeinsame Absprache hinweggesetzt haben, nämlich dass die Schulkinder nach dem Mittagessen ohne Ausnahme nach draußen gehen, um sich vor den Hausaufgaben an der frischen Luft zu bewegen. Weil es aber regnet, ist der Platz draußen begrenzt, denn die Kinder dürfen sich nur in dem Bereich, der überdacht ist, aufhalten. Es kommt zu verstärkten Rempeleien und Übergriffen. Einige ruhigere Kinder fühlen sich sichtlich unwohl in dieser Situation. Die zuständigen Kolleginnen entscheiden sich daher – entgegen der bestehenden Regel –, den Kindern freizustellen, ob sie drinnen oder draußen spielen möchten, um die Situation zu entzerren.
Einige Kolleginnen sind mit dieser Entscheidung unzufrieden. Sie bewerten den Aufenthalt und die Bewegung an der frischen Luft als sehr wichtig. Denn dann sind die Kinder während der Hausaufgaben ruhiger und konzentrierter, so ihr Argument. Eine andere Teamkollegin hält dagegen. Sie selbst hat sich als Kind gerne erst einmal in einem ruhigen Spiel in ihrem Zimmer zurückgezogen, bevor sie Hausaufgaben machen konnte. Auf Bewegung an der frischen Luft hatte sie gar keine Lust, wie sie sich erinnert. Daraufhin entspinnt sich in der Dienstbesprechung ein angeregtes Gespräch über die eigenen Erfahrungen und inwieweit sie die eigenen Überzeugungen beeinflussen. Schließlich kommt das Team darin überein, den Kindern mehr Entscheidungsraum zu geben und Freiräume für unterschiedliche Bedürfnisse zu ermöglichen.
Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie das pädagogische Denken und Handeln von der eigenen Lebensgeschichte geprägt ist. Wer sich mit der eigenen Biografie und der der anderen auseinandersetzt, erweitert sein Eigen- und Fremdverständnis. Die multiperspektivische Sichtweise eröffnet einen veränderten Umgang mit der Ausgangssituation. Das Team in unserem Beispiel findet hierüber zu einer neuen gemeinsamen L
ösung, die schließlich den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder Rechnung trägt. Der Ansatz, sich an die eigene Kindheit und seine Bedürfnisse zu erinnern, stammt aus der Biografiearbeit, einer Methode, die zunehmend Einzug in die pädagogische Praxis hält. Sie eröffnet den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Umfeld des offenen Ganztags ein großes Lernfeld: Eigene Einstellun gen und Haltungen lassen sich mit denen anderer vergleichen und abstimmen. Dies lässt vielseitige Sichtweisen auf einzelne Situationen und Personen zu. So werden Unterschiede erkennbar und eigene Bewertungsmuster aufgedeckt. Die Fachkräfte gewinnen neue Informationen und können eingefahrene Denk- und Handlungsweisen neu überdenken. Letztlich verändert die Biografiearbeit das pädagogische Handeln.
DIE VERSCHIEDENEN ANSÄTZE DER BIOGRAFIEARBEIT
Die Biografie eines Menschen setzte sich aus verschiedenen Teilbiografien zusammen, wie der Coach und Autor Hubert Klingenberger in seinem Buch „Lebensmutig“ beschreibt. Ein Team sollte daher seine Haltungen und Prägungen aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachten und reflektieren. Folgende Möglichkeiten gibt es:
1 Soziale Biografie
Hier liegt der Fokus auf den Lebensverhältnissen der einzelnen Personen.
Methode: Um im Team über eigene Hintergründe zu sprechen, Prägungen zu verdeutlichen und daraus eine verstehende, annehmende Haltung zu entwickeln, legt man verschiedene Bilder von Familien und Familienkonstellationen aus. Jede Fachkraft wählt eine Bildkarte aus, die der eigenen früheren Familienkonstellation am nächsten kommt. Gemeinsam werden dann Fragen beantwortet: Welches Familienmodell habe ich selbst erlebt? Wie stehe ich zu den Lebensbedingungen der Kinder und ihren Familien in unserer Schule – wo sind Parallelen und Unterschiede zu meinen eigenen Lebensbedingungen früher und heute? Inwieweit beeinflusst dies mein Denken und Handeln im Umgang mit den Kindern und Eltern?
2 Entwicklungsbiografie
Betrachtet werden die sozialen Beziehungen und deren Bedeutung für die persönliche Entwicklung. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Entwicklungsbiografie und der der Kollegen kann helfen, das Verhalten einer Kollegin zum Beispiel im Umgang mit einem sich aggressiv verhaltenden Kind besser nachzuvollziehen.
Methode: Folgende Fragen können das erlernte Denken und Handeln beleuchten: Wie wurde mit Konflikten in meinem Umfeld umgegangen? Durfte ich meine Wut frei äußern? Wer hat mir welche Konfliktbewältigungsstrategien mit auf den Weg gegeben?
3 Kultur-Biografie
Hier geht es neben der Kultur im Sinne von Kunst, Oper, Theater, Musik etc. im Wesentlichen um alles, was unseren Alltag beeinflusst – also etwa die Ess- und Trinkkultur, die Kleidung, die Art des Wohnens, bestimmte Rituale und Gewohnheiten.
Methode: Die Kultur-Biografie kann immer dann einbezogen werden, wenn es um den Umgang mit Medien, um angemessene Spielkleidung, gesundes Essen oder Hausaufgaben geht. Denn das sind alles Themen, die im pädagogischen Alltag viel Reibungs- und Konfliktpunkte bieten. Auch in unserem Beispiel am Anfang wird die Kultur-Biografie miteinbezogen – es geht unter anderem um die Gestaltung des Alltags vor den Hausaufgaben.
4 Mytho-Biografie
Botschaften, Glaubensgrundsätze, Werte und Normen beeinflussen das pädagogische Handeln oft sehr nachhaltig – positiv wie negativ. Gerade in Zeiten der religiösen Diversität und Vielfalt im offenen Ganztag ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Prägung elementar. Sie bildet eine wesentliche Grundlage, wie offen bzw. vorurteilsbewusst der/die Einzelne anderen Religionen gegenübertritt. Methode: Das Team stellt sich Fragen zu Glaubenseinstellungen und Weltanschauungen, die sich im Laufe des Lebens entwickeln und grundlegend Einfluss auf die Weiterentwicklung nehmen.
5 Lern- und Bildungsbiografie
Die Fachkräfte reflektieren ihre formalen Bildungsabschlüsse und vermeintlich beiläufigen Lernprozesse und -ergebnisse im Verlauf des Lebens.
Methode: Als Einstieg in einen gemeinsamen Dialog über die eigenen Lernwege können hier Bilder und Fotos aus der eigenen Schulzeit dienen. Auch dieser Teilaspekt mit der Frage „Welche Vorstellung von Lernen und seinen Grundbedingungen habe ich?“ findet sich in unserem Beispiel wieder.
6 Biografie anhand geschlechtsspezifischer Aspekte
Bei diesem Ansatz wird die eigene Geschichte unter geschlechtersensiblen Gesichtspunkten betrachtet. Das ist etwa dann wichtig, wenn es um die gemeinsame Entwicklung eines geschlechterbewussten Konzeptes in der Einrichtung geht.
Methode: Mögliche Fragen sind: Welches Rollenbild haben mir meine Eltern vorgelebt? Welche Vorstellungen habe ich darüber, wie Jungen und Mädchen sind oder sein sollten?
7 Biografie aufgrund der nationalen Herkunft
Hier geht es um Bedingungen und Lebensverläufe, die aufgrund kultureller Wurzeln und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität bestimmt und geprägt sind. Für die Entwicklung einer inklusiven, vorurteilsbewussten und kultursensiblen Pädagogik ist dieser Teilaspekt nahezu unumgänglich.
Methode: Ein Zugang zu diesem Ansatz könnte sein, die Mitarbeiter eine sogenannte Lebenslandkarte erstellen zu lassen, die sich in verschiedene Abschnitte unterteilt: Kindheit, Jugendalter, junge Erwachsene und das Erwachsensein der Gegenwart. Dann soll jede Fachkraft anhand von Symbolen oder Stichwörtern beschreiben, wie sie den Zugang zur eigenen Kultur und zu der anderer in den einzelnen Lebensabschnitten erlebt hat.
Im Rahmen von Dienstbesprechungen, Teamtagen oder anderen Fort- und Weiterbildungen bieten sich mit der Biografiearbeit viele Möglichkeiten, die eigene Lebensgeschichte und die der anderen zu reflektieren – und so vielleicht bis dahin nicht wahrgenommene Stärken, Ressourcen und Kompetenzen von sich selbst und anderen zu entdecken. Dadurch lässt sich das Verständnis von sich selbst und anderen erweitern. Das führt wiederum zu einer verbesserten Zusammenarbeit, gerade in multiprofessionellen Teams.