Selbst ist das KindPartizipation

Eine Ganztagsschule in Niedersachsen lässt die Schüler vieles mitbestimmen. Eine offene Atmosphäre und überdurchschnittliche Leistungen sind das Ergebnis. Dafür gab es den Deutschen Schulpreis 2016.

Selbst ist das Kind
© Sven Kästner, Berlin

Die fühlt ihr euch heute?“, fragt Diana in die Runde. Die selbstbewusste Neunjährige leitet den wöchentlichen Klassenrat, der gerade in der 4a begonnen hat. Jeden Freitagvormittag besprechen die Schüler hier die Probleme der Woche, ganz lebhaft und selbstständig. Auch alle anderen ersten bis vierten Klassen der „Grundschule auf dem Süsteresch“ im niedersächsischen Schüttorf sitzen zu dieser Zeit so zusammen. In dem flachen Siebziger-Jahre-Bau der offenen Ganztagsschule kurz vor der niederländischen Grenze wird Mitbestimmung täglich gelebt. Und nicht nur in den Klassenräten können die 280 Kinder ihre Interessen vertreten, sondern auch im monatlich tagenden Schülerparlament und der viermal jährlich einberufenen Schulvollversammlung. Überall geht es um die Fragen des gesamten Schulalltags – vom Unterricht bis zum Betreuungsangebot am Nachmittag. Lehrer und Erzieher haben überdies viele Partizipationsprojekte angestoßen, sowohl für den Unterricht wie auch die Freizeit ab Mittag.
Dass die Mitbestimmung keinen Verzicht auf Regeln bedeutet, wird im Klassenrat der 4a deutlich. Auf vier Bänken im Karree vor der Tafel versammelt diskutieren die Schüler diesmal ganz besondere Kompetenzstreitigkeiten: Die Mädchen und Jungen der vierten Klassen stellen während der Hofpausen eine Schüler-Aufsicht. Sie sind berechtigt, ihre Mitschüler auf die Einhaltung der Pausenregeln hinzuweisen, müssen sich aber selbst ebenfalls an bestimmte Vorschriften halten. Nun beklagt Thijs, der kurz zuvor in der Hofpause eine der neongrün leuchtenden Aufsichtswesten getragen hat, dass die anderen Schüler seine Anweisungen oft ignorieren. Andere Viertklässler bestätigen diese Erfahrung. Nach einigen Minuten kündigt Klassensprecherin Diana an, das Thema im Schülerparlament auf die Tagesordnung zu setzen, damit es auch in den anderen Klassen besprochen wird.
Klassenlehrerin Maja Nischik braucht während der gesamten Sitzung kaum einzugreifen. „Eines der Kinder moderiert jede Woche den Klassenrat, alle können Vorschläge machen, und am Ende gibt es meist eine Lösung“, berichtet sie. „Kinder können sehr viel selbst regeln“, bestätigt Konrektorin Heike Draber. „Auf diese Weise lernen sie, in Gruppen zu entscheiden und dabei auch auf die Gruppe Rücksicht zu nehmen.“

ALLE PÄDAGOGEN MÜSSEN ÜBERZEUGT SEIN

Draber hat vor etwa 15 Jahren die Einführung der Mitbestimmungsprozesse mit angestoßen. Das ging nicht Schlag auf Schlag, sondern dauerte insgesamt 12 Jahre. „Anfangs haben manche Kolleginnen und Kollegen nach den traditionellen Methoden weitergearbeitet. Wir haben niemanden gezwungen, die Reformen mitzumachen“, erinnert sich Draber. „Das funktioniert auch nicht, wenn die Mitarbeiter nicht dahinterstehen.“ Ganz abgesehen davon, dass es dem Gedanken der Mitbestimmung widersprechen würde. Draber ist davon überzeugt, dass man Kinder zu Demokraten erzieht, wenn sie möglichst früh selbst mitentscheiden können. „Wichtig ist die Erfahrung der Selbstwirksamkeit“, sagt die Lehrerin für Mathe, Deutsch und Sachkunde. Sie ist auch nach vielen Jahren noch begeistert davon, wie selbstständig schon Erstklässler nach einigen Wochen in der Schule manches in die Hand nehmen.
Unterdessen ist der Unterrichtstag beendet. Im früheren Innenhof, der zu einem hellen Atrium umgebaut wurde, nehmen die Schüler ihr Mittagessen ein. Dessen Auswahl haben die Schüler mitbestimmt: Was vielen nicht schmeckt, wird nicht mehr gekocht. Die anschließenden Ganztagsangebote nutzen etwa 140 Kinder unter der Obhut pädagogischer Mitarbeiter, einiger Lehrer und zweier junger Frauen, die ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren. Zunächst steht freies Spiel auf dem Programm. Obwohl überall in der Schule frei zugänglich Computer bereitstehen, daddelt niemand am Bildschirm. Stattdessen rennen alle Kinder raus an die frische Luft und toben auf dem Schulhof.

DRAUSSEN KLETTERN STATT DRINNEN DADDELN

Dort steht ebenfalls ein Ergebnis kindlicher Mitbestimmung: Nachdem die Stadtverwaltung die beliebten Kletterbäume eingezäunt hatte, beschwerten sich die Mädchen und Jungen per Brief beim Schüttorfer Bürgermeister. Mit Erfolg: Der Kommunalpolitiker ließ als Ersatz eine große Kletterspinne vor der Schule aufstellen.
Kurz vor 14 Uhr ruft Betreuerin Angelika Eilers alle Schüler zusammen. Gemeinsam werden Streitpunkte der vergangenen Stunde besprochen, dann schickt Eilers alle Mädchen und Jungen zum Erledigen der Hausaufgaben. Die Betreuerin unterstützt dabei vor allem Erstklässler. Ältere Schülerinnen und Schüler helfen sich gegenseitig. Nach 45 Minuten kommen alle wieder im Atrium zusammen, denn jetzt beginnt die Zeit der Arbeitsgemeinschaften. Vor einigen Wochen haben die Pädagogen dafür auf Wunsch der Kinder ein neues System eingeführt: An jedem Morgen darf sich jeder Schüler eine AG für den Nachmittag aussuchen. An einer Magnettafel auf dem Flur heften sie unter das entsprechende Angebot ihr Bild. „Das Argument der Schüler war: Alle, die den Nachmittag zu Hause verbringen, können auch selbst über ihre Beschäftigung entscheiden“, erinnert sich Konrektorin Draber. „Das stimmt natürlich, und deshalb probieren wie dieses Modell für den Nachmittag jetzt aus.“
Bevor die Arbeitsgemeinschaften beginnen, müssen die Kinder allerdings noch ein Problem klären: Manche Schüler erlauben sich gerne mal einen Streich – und heften in einem unbeobachteten Augenblick einige Bilder um. Immer wieder gab es in den vergangenen Tagen Tränen, weil manche Kinder deshalb nicht in ihre Wunsch-AG eingeteilt wurden. „Was könnten wir da machen?“, fragt Betreuerin Eilers in die Runde. Die Kinder plädieren zunächst für pure Überwachung. Bestimmt fünf Mal kommt aus verschiedenen Ecken die Idee, eine Videokamera über der Magnettafel zu installieren. Nachdem die Erwachsenen erklärt haben, dass sie das nicht für sinnvoll halten, hat ein Junge einen Lösungsvorschlag: Jedes Kind kontrolliert kurz vor dem Start der Arbeitsgemeinschaften, ob sein Bild noch unter dem gewünschten Angebot hängt.
Dann stürmen alle davon: entweder zum Fußball, zum Bewegungskurs mit Einrad-Fahren, zum Zubereiten gesunder Snacks oder auch in den Raum mit den Bausteinen. Kurz vor 16 Uhr werden die Kinder von ihren Eltern abgeholt, die Schule schließt.
Das offene, zugewandte Klima, in dem Lehrer und Betreuer ihren Schülern möglichst viel Freiraum für eigene Entscheidungen lassen, wird auch den kommenden Schultag wieder prägen. „Am liebsten würden wir ein gebundenes Ganztagsangebot einführen“, sagt Konrektorin Draber. „Aber da machen leider viele Eltern nicht mit. Es gibt hier im ländlichen Raum viele, die ihre Kinder nachmittags zu Hause haben wollen.“ Anfangs hatten einige Mütter und Väter auch Vorbehalte gegen das Konzept der Mitbestimmung. Die Bedenken ließen sich aber in regelmäßigen Gesprächen zerstreuen. Seit diesem Jahr haben die Pädagoginnen und Pädagogen ein weiteres Argument auf ihrer Seite: Für ihr Konzept erhielten sie den Deutschen Schulpreis als beste Grundschule Deutschlands.

Der Deutsche Schulpreis

wird seit 2006 jährlich von der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof Stiftung vergeben. Eine Jury aus Pädagogen, Wissenschaftlern und Bildungspolitikern kürt herausragende Schulen, die bei den Kindern Kreativität freisetzen, Lust an der Leistung entstehen lassen und zu Fairness und Verantwortung erziehen. Die Auszeichnung will Aufmerksamkeit für gute Konzepte schaffen, damit diese an vielen Schulen wirksam werden können. Der Hauptpreis ist mit 100.000 Euro dotiert, vier weitere Schulen erhalten jeweils 25.000 Euro. Alle nominierten Einrichtungen erhalten zudem einen Anerkennungspreis über 2.000 Euro.

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