"Unverplante Zeit ist ein Schatz"Freie Zeit

Mit dem Ausbau der Ganztagsschulen geht die Verschulung der unterrichtsfreien Zeit einher. Kinder brauchen aber auch freie Zeit ohne Kurse und Arbeitsgemeinschaften. In den 70er-Jahren war man da schon mal weiter.

Unverplante Zeit ist ein Schatz
© Unsplash © Brandon Morgan

Es scheint so, als hätte das Spielen in der Pädagogik an Wert verloren. Dabei wussten schon die Reformpädagogen wie Célestin Freinet oder Maria Montessori, dass Spielen bildet. Die italienische Ärztin etwa hatte bereits vor hundert Jahren erkannt, dass sich Kinder im Spiel Anregungen suchen, die sie gerade für ihre Entwicklung brauchen. Längst weisen auch Erkenntnisse der Hirnforschung auf diesen Zusammenhang hin. Aber seit der PISA-Diskussion stehen Förderungsangebote im Vordergrund. Die Folge: Auch die Zeit jenseits des Unterrichts wird für Kurse oder ähnliche Angebote verplant. Das soll zur Bildung und Erziehung der Kinder beitragen, so die Hoffnung.
Wesentlicher Bestandteil der Nachmittagsbetreuung sind daher neben der Hausaufgabenbetreuung Kurse oder Arbeitsgemeinschaften, für die sich die Kinder verbindlich anmelden müssen. An manchen Schulen ist die Palette ähnlich breit gefächert wie an einer Volkshochschule: Kinder haben die Wahl zwischen Capoeira, Yoga, Schach, Theater, Töpfern, Filzen, Kochen, Gärtnern, Italienisch, English Conversation, Kochen, Nähen, Schreibwerkstatt, Fußball oder Streetdance. Was sie nicht wählen können: nichts von all dem zu tun, was die Erwachsenen sich für sie ausgedacht haben.
Dabei ist gerade das wichtig, sagt Gerlinde Lill: „Wenn Erwachsene Kindern unverplante Zeit schenken, dann entsteht etwas Eigenes.“ Lill, promovierte Pädagogin und Politologin, hat das Konzept der Offenen Arbeit mitbegründet und setzt sich seit vielen Jahren für seine Umsetzung in Kindergärten, Horten, aber auch Senioreneinrichtungen ein (siehe auch Interview auf der folgenden Seite). Offene Arbeit ist in den 70er-Jahren der alten Bundesrepublik als inklusiver Ansatz in Kita und Schule entstanden, in einer Zeit, in der sich Willy Brandts Regierungsmotto „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ in vielen gesellschaftlichen Bereichen spiegelte.
Leider, sagt Lill, sind seitdem einige Ideen und Konzepte verwässert worden. Insbesondere das Recht von Kindern auf Mitsprache und Beteiligung komme heute vor allem in Schulen zu kurz. Und das, obwohl es inzwischen eine UNKinderrechtskonvention gibt, die ausdrücklich das Recht auf Partizipation festschreibt. Die Meinung des Kindes muss angemessen und dem Alter und der Reife des Kindes entsprechend berücksichtigt werden, heißt es dort in Artikel 12.
Wenn man Kinder und Jugendliche selbst fragt, wie ihre Wunschschule am Nachmittag aussehen soll, haben sie ziemlich genaue Vorstellungen. Auf keinen Fall wollen sie Fächer aus dem Vormittagsunterricht vertiefen, schreibt die Kinderund Jugendpsychologin Oggi Enderlein in der Broschüre „Schule ist meine Welt. Ganztagsschule aus Sicht der Kinder“. Vielmehr wünschen sie sich ausreichend Freiräume. Mehr Raum und Zeit für Bewegung, ungestörten Rückzug und Spielen stehen auf der Wunschliste ganz oben. „Das zeigt: Kinder wissen genau, was ihnen guttut“, sagt Lill. „Eine Ganztagsschule, die diese Aspekte unberücksichtigt lässt, mag Gründe dafür haben – den Bedürfnissen von Kindern wird sie nicht gerecht.“

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