In erster Linie Kontakt!Geflüchtete Kinder

Sie haben eine lange, manchmal monatelange Flucht bewältigt. Sie haben Heimweh, kommen aus überfüllten Auffanglagern und sie sind von einer Welt umgeben, die nicht ihre Sprache spricht. Kinder mit Flüchtlingshintergrund, die in Deutschland die Schule besuchen, brauchen viel mehr als Sprachkurse. Eine feinfühlige pädagogische Begleitung, geduldige erwachsene Betreuer und: Sie brauchen den Kontakt zu Gleichaltrigen.

In erster Linie Kontakt
© Alexander Knoll, Kaiserslautern

Für Kinder im Schulalter, die als ‚Fremde‘ nach Deutschland kommen, ist in erster Linie der Kontakt zu anderen Kindern wichtig. Es tut ihnen gut, wenn sie die Schule besuchen können“, postuliert Oggi Enderlein, Verfasserin des Themenpapiers „Die Rechte großer Flüchtlingskinder“ von der „Initiative für große Kinder“. Signale von Gleichaltrigen, Aussagen wie „Du darfst mitmachen“, „Ich will dein Freund sein“ oder „Ich helfe dir“ trügen wesentlich zu einer inneren Sicherheit und zum Dazugehören des „neuen“ Kindes bei. Zum Schulsystem müsse außerdem gesagt werden, dass die Separierung spezieller Schulklassen für nicht deutschsprachige Kinder, sog. „Willkommensklassen“, von Fachleuten inzwischen als wenig hilfreich und isolationsverstärkend angesehen wird. (In Schweden werden Kinder mit Migrationshintergrund in Regelklassen aufgenommen und erhalten parallel bedarfsgerechten, zeitlich begrenzten Schwedisch-Unterricht in kleinen Gruppen oder einzeln. Ein für Enderlein erfolgversprechenderes System.) Die Gelegenheiten für die Begegnungen der Kinder müssen von Erwachsenen organisiert und zur Verfügung gestellt werden. Nur wenn pädagogische Fachkräfte eine Umgebung und eine Atmosphäre schaffen, in der es Kindern leicht fällt, aufeinander zuzugehen, sind vielfältige Kontaktsituationen möglich. Hier sind feinfühlige Begleitung und ein vorurteilsfreier Blick auf jedes einzelne Kind wichtig.

KONTAKT ERMÖGLICHEN

Viele Schulen, Horte und Betreuungseinrichtungen haben das längst realisiert. Kinder mit Flüchtlingshintergrund gehören inzwischen zur sozialen Wirklichkeit, zur Realität an Ganztagsschule und Hort. Kinder mit Flüchtlingshintergrund entwickeln eigene und möglicherweise ungewöhnliche Strategien, um mit hier lebenden Kindern in Kontakt zu treten. Durch kreatives Erfinden von gemeinsamen Spielen oder Aktionen versuchen die Kinder auf sich aufmerksam zu machen oder Anknüpfungspunkte zu finden. Aber auch Streiten und Vertragen oder hilfesuchendes Weinen kommen vor. „Hier ist wichtig, auch ungewöhnliche Verhaltensweisen vor dem Hintergrund des Kontakt- und Aufmerksamkeitsuchens zu sehen“, stellt Enderlein in ihrem Papier heraus.

KULTURELLE WURZELN WÜRDIGEN

Gerade in der ersten Zeit der Eingewöhnung ist für Kinder mit Flüchtlingshintergrund (aber auch für eingewanderte Kinder ohne direkte Fluchterfahrung) noch etwas anderes wichtig: der Kontakt zu Verwandten und Freunden in der Heimat. Medien wie Computer, Tablet, Smartphone, Internet und Telefon bekommen hier eine wichtige Bedeutung als Nabelschnur und als Verbindung zu dem, was zurückgelassen wurde. Der Blick auf die eigene Vergangenheit, die eigene Kultur und das eigene Anderssein sollte nicht negativ sein und er sollte vor allem gefördert werden: „Diese Kinder wollen sich nicht in ein ‚deutsches Schema‘ gepresst fühlen, sondern sich als Person mit ‚anderer‘ Vergangenheit und Herkunft angenommen und wertgeschätzt fühlen.“
Ein Punkt, der häufig vergessen wird, ist laut Fachautor Daniel Schneider, „dass Kinder aus Flüchtlingsfamilien in der Schule viel zu selten Texten bzw. Inhalten begegnen, die sich an ihrem aktuellen Lebensalltag orientieren … Es würde sich sicherlich anbieten, (Medien-)Figuren aus dem Herkunftsland der Kinder und ihrer Eltern zum Lerngegenstand zu machen, um die Herkunftsliteratur der Flüchtlingsfamilien in den hiesigen Unterricht in Vorbereitungsklassen und außerschulischen Lernorten einzubeziehen und für den Spracherwerb zu nutzen.“ Die Orientierung an der Lebenswirklichkeit von Flüchtlingskindern sei, so Schneider weiter, auch eine Grundvoraussetzung für eine gelungene Kooperation zwischen erwachsenen Betreuern und Eltern.

MIT HEIMWEH UND TRAUMA UMGEHEN

Kinder, die neu in der Schule ankommen, leiden vielfach nicht nur unter dem, was man pauschal „Heimweh“ nennen könnte. Die Anzahl an stark traumatisierten Kindern schätzt man auf etwa ein Drittel. Sie haben eine gefahrvolle Flucht bewältigt, eine Heimat verlassen, in der Krieg und Hunger herrschten. Das Ausdrücken solcher Erfahrungen ist nicht immer sofort möglich. Im freien Spiel, in Geschichten, Bildern und anderen medialen Darstellungen haben und erschaffen sich Kinder aber die Möglichkeit, sich direkt oder indirekt mitzuteilen. Nonverbale Äußerungen dieser Art tragen zur psychischen Verarbeitung des Erlebten bei. Auch hier können Fachkräfte in Ganztagsschule und Hort unterstützen, indem sie einen künstlerischen Ausdruck möglich machen und fördern – und indem sie genau hinsehen: Inhalte und Darstellungen können betreuenden Erwachsenen Hinweise auf einen eventuellen Therapiebedarf geben.
Eine Therapie wird von betroffenen Kindern und Jugendlichen nach Beobachtungen von Enderlein oft abgelehnt: „Sie erleben nicht sich selbst als therapiebedürftig, sondern eher ihre Lebensumstände als Problem“, erklärt Enderlein. Spezielle Kinder-Traumatherapeuten, noch dazu mit Kenntnis der Herkunftssprachen bzw. geeignete Dolmetscher, gibt es darüber hinaus zu wenige. Für Kinder mit stärkeren posttraumatischen Belastungsstörungen ergeben sich häufig auch weitere Schwierigkeiten, die beispielsweise das Selbstbild betreffen und in depressive Episoden münden können.

„Migration und insbesondere Flüchtlingserfahrungen können einerseits zu reiferem Verhalten beitragen, andererseits können Traumatisierungen zu einem Rückfall in eine frühere Entwicklungsphase führen“, verdeutlicht Enderlein. Zudem ist das Verständnis von den Fähig- und Fertigkeiten, die Kinder in einem bestimmten Entwicklungsabschnitt beherrschen sollen, kulturell verschieden. Unsere westlichen Orientierungsmaßstäbe unterscheiden sich auch in diesem Punkt von den Erziehungszielen und -maßstäben anderer Kulturen. Dies kann zu Problemen in der Kommunikation mit den Kindern selbst und vor allem mit den Eltern der Kinder führen. „Es ist wichtig, das Kind einfach so zu nehmen, wie es sich selbst erlebt, um darauf aufbauend die weitere individuellen Entwicklung zu unterstützen“, rät Enderlein. Kinder zu sehr als hilflose und hilfsbedürftige Opfer zu sehen und ihre Kraft und Selbstwirksamkeit zu unterschätzen, das kann ebenso entwicklungshemmend sein, wie ihnen zu viel an Verantwortung für sich selbst bzw. für die Familie zu übertragen. Selbst wenn Kinder zu simulieren scheinen, ist dies in der Regel ein ernst zu nehmender Hinweis auf ein tiefer liegendes Problem des Kindes. Pädagogische Fachkräfte stehen bei der Betreuung von Kindern mit Migrationshintergrund vor neuen Herausforderungen. So müssen auch in Aus- und Weiterbildung die besonderen Belange von „großen Flüchtlingskindern“ thematisiert werden. „Das Erkennen von und der angemessene Umgang mit Traumatisierung und fluchtbedingten Belastungssymptomen muss beherrscht werden“, fordert Enderlein. Schule und Unterricht müssen hier frühzeitig reagieren: Für traumatisierte geflüchtete Kinder braucht es niedrigschwellige, sprach-/kultursensible und stärkende Betreuungsangebote. Den Zugang zur Schul- und Berufsausbildung zu garantieren, ist nicht nur ein Kinderrecht (das Recht auf Bildung für Flüchtlinge wird auf europäischer Ebene in Artikel 27 der Qualifikationsrichtlinie aufgegriffen), sondern es entspricht auch dem Bedürfnis der Kinder selbst, weil ihnen Bildung Zukunftszuversicht vermittelt.

DEMOKRATISCHE WERTE KULTURÜBERGREIFEND VORLEBEN

„Am Anfang musste ich erst einmal lernen, Mädchen und Frauen beim Sprechen in die Augen zu sehen“, sagte Ahmed, heute 17 Jahre. „Unterschiedliche Kultur und Religion? Das war für uns gar nicht schlimm“, erzählt dagegen Kawthar Issa. „Das war das Leichteste“, ergänzt ihr Mann. Was stimmt nun? Tatsache ist, dass Kinder aus Flüchtlingsgebieten unterschiedlich sind. So unterschiedlich wie Menschen, die hier leben. Sie haben unterschiedliche Ansichten und sind unterschiedlich groß geworden. Gegen kulturell-religiöse Einschränkungen, vor allem von Mädchen und Frauen (z. B. das Nicht-Fahrradfahren-Dürfen), sollte von deutscher Seite nicht mit Druck vorgegangen werden, raten Experten. Flüchtlingen gibt ihr traditionelles Wertesystem in der Fremde oft wesentlichen Halt. Diese Werte gilt es gleichermaßen anzuerkennen, wie mit den Familien gleichzeitig aber auch daran zu arbeiten ist, dass Menschenrechte kulturübergreifend gültig sind.
Schwieriger als für die jüngeren Kinder ist der Umgang mit diesem kulturellen Dilemma für die „großen Kinder“ und Jugendlichen. Sie brauchen für den „Brückenschlag“ eine besonders feinfühlige, kulturoffene, tolerante aber auch klare Begleitung. Enderlein rät: „Die Ganztagsschule muss der Ort sein, an dem alle Kinder, aber besonders jene, die aus totalitären Staaten geflohen sind, demokratische Grundregeln erleben; wo Respekt, Beteiligung, Partnerschaft, Verantwortungsübernahme und Anerkennung als Grundwerte vermittelt werden.“

GEMEINSAM DEN BLICK NACH VORN WAGEN

Ein Rat für alle Beteiligten: Für Kinder aus Flüchtlingsgebieten ist in der neuen Umgebung der Blick nach vorn wichtiger als der Blick zurück. Darin sind sich Fachleute einig. Die Aussicht weiterzukommen, zu lernen, das eigene Leben mitgestalten zu können, sich als (selbst-)wirksame Person zu erleben, das gibt Sicherheit und Zuversicht.
Für Lehrkräfte bzw. erwachsene Betreuende kommt unser Tipp von Kawthar Issa: „Einfach ein bisschen Geduld haben. Am Anfang nicht zu viel erwarten.“
Und für Behörden, Einrichtungen und soziale Dienste? Durch eigene Fluchterfahrungen und durch den Umgang mit Einwanderern nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es in Deutschland ein nicht zu unterschätzendes Repertoire an Erfahrungen über die persönlichen Auswirkungen von Flucht und Trauma, regt Enderlein an. „Dies sollten wir in der Zukunft nutzen lernen.“

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