Menschen bewegen sich in die Richtung, in die sie schauen. Das jedenfalls schreibt der amerikanische Psychologe Prof. David Cooperrider. Ich erinnere mich noch sehr genau an meine erste Klassenlehrerin. Sie schaute bei uns Schülern immer wieder in Richtung unserer Stärken, unserer Begabungen. Sie stempelte mir eine lachende Sonne in mein Heft. Und schrieb dazu: Prima! Das war eine gute Antwort, Barbara. Ich war so stolz. Dabei hatte ich nur eine Frage meiner Lehrerin richtig beantwortet. Ich weiß nicht mehr, um welches Thema es ging, aber dieses Lob hat mich geprägt. Vielleicht sogar für den Rest meines Lebens. Von da an habe ich mich öfter gemeldet und mich mehr am Unterricht beteiligt.
Viel später, erst als ich bereits erwachsen war, verstand ich die Blickrichtung dieser Lehrerin. Mehr als alle anderen Erwachsenen beachtete sie das, was wir gut konnten. Selbst die Stärken, die bei uns gerade aufkeimten, fielen ihr auf. Da war unser Klassenkasper, der fast immer den Unterricht störte. Als er einen Moment lang still war, schrieb sie in sein Heft: Prima! Gerade eben hast du sehr gut aufgepasst. Er bekam ebenfalls eine lachende Sonne und auch dieser Sonnenaufgang bewirkte ein kleines Wunder. Der Junge wurde zwar kein Musterschüler, aber manchmal war er im Unterricht ruhiger und er machte weniger Unsinn.
Diese Lehrerin war nicht nur beliebt, sie hatte auch einen enormen Einfluss auf uns. Sie sah unsere guten Seiten und dokumentierte das in unseren Heften. So konnten auch unsere Eltern unsere Stärken sehen und sich darüber freuen. Viel später ging mir auf, dass das wichtigste Prinzip ist, wenn es darum geht, Menschen in eine positive Richtung zu beeinflussen: Erwisch sie, wenn sie es richtig machen, und häng das an die große Glocke.
Menschen bewegen sich auch gefühlsmäßig in die Richtung, in die sie schauen. Wer bei sich selbst und seinen Mitmenschen nur die Schwachstellen ins Visier nimmt, findet jede Menge Gründe, um sich mies zu fühlen. Klar, die anderen haben ein paar Macken und Marotten. Aber wer nur das Negative sieht, macht seine Mitmenschen zu Mängelwesen, die sich immer anstrengen müssen, um besser zu werden. Da kommt keine Freude auf und niemand bekommt eine lachende Sonne. Willkommen im Jammertal!
Die meisten Menschen können sehr lange und ausführlich über das sprechen, was ihnen Probleme macht und was ihnen nicht so gut gelingt. Aber was glauben Sie, wie lange können diese Menschen über das sprechen, was sie gut können und was ihnen gelingt? Vielleicht erstaunt es Sie, aber der Mehrzahl fällt nach ungefähr drei Minuten nichts Positives zu ihrer Person mehr ein. Was ist da los? Viele von uns haben sich angewöhnt, mit einer Negativ-Lupe herumzulaufen. Wir vergrößern bei uns selbst die Schwächen und Defizite. Und wir lassen das, was uns Tag für Tag gelingt, unter den Tisch fallen. Und so haben wir scheinbar mehr Probleme als Lösungen, mehr Schwachstellen als Stärken.
Ja, wir bewegen uns in die Richtung, in die wir schauen. Und wenn wir auf das schauen, was wir können und schaffen, dann blühen wir auf. Denn diese positive Blickrichtung wirkt wie Dünger. Was wir mehr und mehr beachten, das wächst und gedeiht. Meine damalige Klassenlehrerin konnte bei uns das zum Blühen bringen, was andere Lehrer kaum beachteten, weil sie es für selbstverständlich hielten. Wir bekamen eine lachende Sonne in unser Heft gestempelt, wenn wir den Müll aufsammelten, die Tafel wischten, wenn wir anderen Kindern halfen und wenn wir mal nicht auf dem Stuhl kippelten. Manche bekamen ihre Sonne fürs Reden, andere fürs Zuhören. Für diese Lehrerin war auch das Selbstverständliche der Rede wert. Deshalb gab es in ihrer Klasse keine Mängelwesen, sondern nur Sonnensammler.
Ja, wir können uns selbst und unsere Mitmenschen stärken. Tatsächlich ist das vor allem eine Sache des Blickwinkels. Probieren Sie es aus und schauen Sie, wie gut Sie sind.