Still stehenAchtsamkeit im Hort

Meditative Übungen und Achtsamkeitstraining helfen Schulkindern bei Stress und Leistungsdruck. Davon kann auch die Arbeit im Hort profitieren.

Still stehen
© shutterstock.com © Yuliya Evstratenko

Die erste Aufgabe klingt lösbar: einfach mal hinstellen. Ohne sich irgendwo anzulehnen. Die Hände aus den Hosentaschen, die Arme an den Seiten baumeln lassen. Beide Füße stehen auf dem Boden, das Gewicht ist gleichmäßig verteilt. „Für viele Kinder ist das extrem schwierig“, sagt Vera Kaltwasser. „Einfach zu stehen, das kann der Anfang für eine Verfeinerung der Selbstwahrnehmung sein, spielerisch können die Kinder mal in die rechte Fußsohle spüren, dann in die linke – und so Kontakt mit dem Körper aufnehmen.“
Vera Kaltwasser ist Lehrerin an einer Frankfurter Schule und Autorin mehrerer Bücher zum Thema Achtsamkeit. Sie hat die sogenannte Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR, Mindfulness-Based Stress Reduction) bei Jon Kabat-Zinn, dem Erfinder dieses Programms, gelernt – eigentlich für sich selbst. Das hat ihr so gutgetan, dass sie irgendwann auf die Idee kam, einen Teil dieser Methoden bei ihren Schülern auszuprobieren. Seither macht sie das regelmäßig und mit Erfolg: Die erste Klasse, mit der sie die Achtsamkeitsübungen gemacht hat, bereitet sich jetzt aufs Abitur vor und bedankt sich heute noch bei ihr für die erlernten Techniken.
Das bewusste Stehen gehört zu den Stillephasen, die Kaltwasser immer wieder in den Unterricht einflicht – schon bei den Jüngsten. Achtsamkeit im pädagogischen Kontext (AISCHU) heißt das von ihr entwickelte Konzept. Es soll Kinder und Jugendliche kontinuierlich in kleinen Schritten dafür begeistern, ihre Innenwelt zu erkunden und sich selbst besser spüren zu lernen. Spielerisch werden körperorientierte Übungen angeboten, aber auch kurze Einheiten, die altersgerecht Wissen über den menschlichen Organismus vermitteln. „Ich bitte die Kinder zum Beispiel, sich eine Zitrone vorzustellen. Dann nehmen sie erstaunt wahr, dass ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft. Eine Vorstellung bewirkt also eine körperliche Reaktion“, erklärt Kaltwasser. „So verstehen die Kinder, dass sie sich mit Befürchtungen und Sorgen – obwohl es nur Gedanken sind – in Stress versetzen. Der nächste Schritt ist dann, dass Kinder und Jugendliche lernen, selbsttätig ihre Stressreaktion zu entschärfen, indem sie zum Beispiel bewusst auf den Atem achten.“ Es gehe ihr, sagt die Pädagogin, vor allem darum, dass die Kinder zu Forschern in eigener Sache werden. Das gelinge nur, wenn es möglich ist, Erfahrungen mit der eigenen Wahrnehmung zu machen und diese auch hinterfragen zu lernen.

IN SICH SELBST HINEINHORCHEN

Auch wenn es von außen nicht so aussieht: Achtsam sein, meditieren ist ein hochaktiver Prozess. Der Geist wird geschult. So ist der Fokus zum Beispiel der Atem. Immer wenn die Gedanken abschweifen, wird die Wahrnehmung wieder zum Atem zurückgeholt. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass aufmerksamer wird, wer regelmäßig seine Achtsamkeit schult. Indirekt wirkt sich das auch auf die Leistungen der Schüler aus. Denn wer unter Stress steht, sieht oft die einfachsten Lösungen nicht, auch Höchstleistungen erbringt niemand in angespanntem Zustand. Die besten Ideen kommen, wenn man entspannt ist. Das haben zahlreiche Studien gezeigt, und genau diese Erfahrung macht Vera Kaltwasser mit ihren Schülern. „Wichtig ist, dass wir Achtsamkeit nicht als Werkzeug zur Selbstoptimierung entwerten, sondern das ethische Potenzial erkennen, das sich entfaltet, wenn wir lernen, bewusst mit uns und dem anderen umzugehen“, betont die Frankfurter Lehrerin, „es darf nicht der Eindruck entstehen, als sei Achtsamkeit ein schnelles Allheilmittel und man bräuchte nur mal hier und da eine Übung in den hektischen Alltag einstreuen, um wieder besser funktionieren zu können.“
In Zeiten der ständigen Reizüberflutung durch Medien und digitale Geräte ist Achtsamkeit ein Weg, der Kindern und Jugendlichen dabei helfen kann, ihre Selbstwahrnehmung zu verfeinern. „Mir hat mal ein kleiner Junge nach den ersten Übungen gesagt: Ich bin jetzt ein Freund mit mir. Das trifft es ziemlich gut, finde ich“, sagt Vera Kaltwasser. „Über den Atem machen sich die Kinder mit sich selbst vertraut, sie lernen, freundlich und liebevoll mit sich selbst umzugehen. Sie lernen auch, frühzeitig zu merken, wann sie sich mit Gedanken mal wieder die Hölle heißmachen. Und sie lernen, auch mit den anderen freundlich und wertschätzend umzugehen.“ Während Kinder im Außen oft an Grenzen stoßen, anecken, reguliert werden, können sie beim In-sich- selbst-Hineinhorchen ganz neue Erfahrungen machen. Sie merken, dass sie sich die Welt oft selber machen, dass es etwas ändert, ob man die Dinge so oder so sieht. Die Zauberfragte, sagt Vera Kaltwasser, lautet: „Ist das wirklich so?“

HILFT BEI AUFMERKSAMKEITSSTÖRUNGEN

Wie schwierig es für Kinder ist, eine Vorstellung von Zeit und dem Nichtstun zu haben, zeigt sich oft ganz am Anfang der Achtsamkeitspraxis. Vera Kaltwasser fragt dann gern, ob sie es schaffen, mal 30 Sekunden lang die Augen zu schließen. Na logo, lachen die Jungen und Mädchen, das ist doch einfach. Und staunen nach fünf Sekunden, wie lange das doch dauert. „Nach etwa sechs Wochen“, schätzt Vera Kaltwasser, „sind meist alle Kinder mit im Boot und können still stehen oder die Augen mal eine halbe Minute lang schließen.“ Bei denjenigen, die dann immer noch stören, weil sie nicht innehalten können, sollten Lehrer, Erzieher und Eltern genauer hinschauen: „Das ist eine Art Hilferuf, denn diese Kinder merken in den Stillephasen zum ersten Mal, was eigentlich in ihnen vorgeht, und das können sie mitunter nicht aushalten.“
Das Interventionsprogramm AISCHU war inzwischen auch auf dem wissenschaftlichen Prüfstand. Niko Kohls und Sebastian Sauer, Forscher an der Ludwig-Maximilians-Universität München, haben in einer kleinen Pilotstudie untersucht, welchen Einfluss die Achtsamkeit auf Aufmerksamkeitsleistung, Lebensqualität, Wohlbefinden und Stress von Fünftklässlern hat. Die Ergebnisse zeigen, dass sich Achtsamkeit in allen Punkten positiv auswirkt, besonders auffällig war die verbesserte Aufmerksamkeitsleistung. Die Wissenschaftler betonen, dass die Ergebnisse nur als erste Anhaltspunkte dienen könnten, die weiter abgesichert werden müssten. Das Thema ist so spannend, dass derzeit einige Studien und Untersuchungen laufen – in einigen Jahren wird man darüber noch mehr wissen.

Achtsamkeit hilft Schülern

  • sich zu entspannen und zu erholen
  • Glück, Freude und Zufriedenheit zu erleben
  • Stress, Ängste und Blockaden abzubauen
  • mit Prüfungsangst und Leistungsdruck besser umzugehen
  • ihre Impulse besser zu kontrollieren
  • selbstsicher und authentischer zu sein

Tipps für Erzieher

Wenn Kinder sich selbst gut regulieren können, konzentrierter, sozialer und mitfühlender sind, wirkt sich das auch auf die Arbeit in der unterrichtsfreien Zeit aus. Wird im Hort eine Praxis der Achtsamkeit gelebt, ist die Atmosphäre ruhiger und entspannter, sagt Sarina Hassine vom AKiJu (Achtsamkeit für Kinder und Jugendliche) e. V. Der gemeinnützige Verein gehört zum MBSR-MBCT-Verband und unterstützt Kinder, Lehrende, aber auch Erzieherinnen und Erzieher darin, Achtsamkeit in der Schule zu etablieren. Hassine, selbst Achtsamkeits-Trainerin, hat im Laufe ihrer Arbeit viele Horte und Nachmittagseinrichtungen für Grundschulkinder besucht. „Der Hort ist ein guter Ort, um Achtsamkeit zu praktizieren. Wer aber glaubt, mit ein paar meditativen Übungen lassen sich wie auf Knopfdruck lebhafte oder herausfordernde Kinder regulieren, der irrt“, sagt sie. Auch unter Druck funktioniere Achtsamkeit nicht. Übungen mit Kindern sollten daher immer unter dem Aspekt der Freiwilligkeit stattfinden. Entscheidend sei in erster Linie die Haltung der Fachkräfte innerhalb der Einrichtung. „Achtsamkeit ist weniger eine Technik oder Methode, sondern vielmehr eine innere Haltung dem Leben gegenüber“, sagt Sarina Hassine. Wer bei Konflikten mit Kindern selbst oft impulsiv oder gereizt reagiert, dem nützen auch Achtsamkeitsübungen mit den Schülern nichts. Wer jedoch gelernt hat, in sich selbst hineinzuhorchen und mit den eigenen Emotionen, Erwartungen und Bedürfnissen gut umzugehen, der kann Achtsamkeit auch in der täglichen Praxis mit Kindern transportieren.

Mehr Informationen sowie Adressen von Achtsamkeitstrainern gibt es unter www.akiju.de.

Übungen für Anfänger

Achtsamkeit ist eine besondere Form der Aufmerksamkeit. Dabei werden innere und äußere Erfahrungen registriert und zugelassen, ohne diese jedoch zu bewerten. Ein guter Start ist es, sich einfach hinzusetzen und eine Minute lang nichts zu tun, als seinen Atem zu beobachten. Bei Kindern genügen auch schon dreißig Sekunden. Manchen hilft es, eine Hand auf den Bauch zu legen und den Atem so besser zu spüren. Im Hortalltag gut einpassen lässt sich auch eine halbe Minute Stillsein vor dem gemeinsamen Mittagessen.  

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