Hofpause in der Hamburger Grundschule Osterbrook: Zwei Jungs, vielleicht neun Jahre alt, gehen aufeinander los. Einer schlägt und klammert besonders unerbittlich. Es wirkt aggressiver als eine der üblichen Keilereien in diesem Alter. Ein Lehrer muss die Schüler trennen, auch dann beruhigt sich einer der Streithähne nur schwer.
„Das Bild auf dem Schulhof hat sich in den vergangenen anderthalb Jahren verändert“, stellt Rektor Erhard Müller fest, „die Aggressionen haben zugenommen.“ Hinter dem gereizten Verhalten steckt häufig seelische Not. Seit 2015 hat die Ankunft vieler Flüchtlinge auch hier im Bezirk Hamburg- Mitte den pädagogischen Alltag verändert. Gut ein Viertel der 250 Kinder in der Ganztagsschule kommt aus Familien mit Fluchterfahrung. Darunter sind viele, die während des Krieges in ihren Herkunftsländern oder auf dem Weg nach Deutschland schreckliche Erfahrungen gemacht haben. „Für uns Lehrer ist schwer einzuschätzen, welche Kinder wirklich schwer traumatisiert sind“, erklärt Müller. Deshalb arbeitet die Osterbrook-Schule seit einigen Monaten mit „Children for Tomorrow“ zusammen. Die Stiftung der ehemaligen Tennisspielerin Stefanie Graf hat gemeinsam mit den Pädagogen direkt im Schulgebäude ein therapeutisches Pilotprojekt begonnen.
„Uns geht es darum, schwere Traumata der Kinder zu therapieren. Und wir wollen den Lehrern und Erziehern die Last abnehmen, sich neben ihren anderen Aufgaben auch noch mit diesem Thema auseinandersetzen zu müssen“, sagt Stiftungsgeschäftsführerin Stephanie Hermes. „Denn dazu sind sie weder ausgebildet noch gehört das zu ihrem Aufgabengebiet.“ Jetzt kommen wöchentlich die Therapeuten der Stiftung in die Schule. Die Organisation betreibt bereits seit 20 Jahren am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf eine Flüchtlingsambulanz, in der vor allem die Traumata jugendlicher unbegleiteter Neuankömmlinge behandelt werden. „Wir haben schon 2015 versucht, auch die Kinder geflüchteter Familien ins Klinikum zu bekommen, aber das hat sich als schwer umsetzbar erwiesen“, berichtet Hermes. Dabei spielten die vielen Behördentermine eine Rolle, die Flüchtlinge ohnehin schon zu absolvieren haben. Manche Eltern leiden zudem selber darunter, dass sie das eigene Kind während der Flucht nicht ausreichend schützen konnten.
Nicht nur laute Symptome
In der Schule kommen die Therapeuten dagegen leicht an die Flüchtlingskinder heran. Um entscheiden zu können, welcher Heranwachsende Hilfe benötigt, organisiert die Stiftung zunächst ein zehnwöchiges Kunst- oder Musikprojekt für alle neu angekommenen Flüchtlinge. „Wir wollen nicht nur die Kinder mit den lauten Symptomen herausfinden“, erläutert Traumapädagogin Sarah Inal. Denn nicht immer fallen traumatisierte Kinder durch aggressives, wütendes Verhalten oder permanente Anspannung auf. Auch weniger offensichtliche Symptome wie geringes Selbstbewusstsein, soziale Rückzugstendenzen, Selbsthass, Schlafstörungen oder das ständige Nachspielen von Kriegsszenen können Anzeichen für ein posttraumatisches Belastungssyndrom sein. „Manche Kinder haben im Krieg mit ansehen müssen, wie Menschen geköpft werden. Das erfährt man zum Beispiel, wenn sie solche Szenen in der Therapie zeichnen.“
Behandlung direkt in der Schule
Nach den zehnwöchigen Kursen für die Neuankömmlinge können die Kunst- und Musiktherapeuten besser einschätzen, welche Kinder tatsächlich Therapiebedarf haben. Denn nicht jeder, der traumatisierende Erlebnisse hatte, braucht eine Behandlung. Manchmal wirkt auch ein sicherer und geregelter Alltag heilsam.
Bevor eine Therapie beginnt, führen die Fachleute Gespräche mit den Eltern. Alle Sitzungen werden in den Schulalltag integriert, um die Mädchen und Jungen nicht zusätzlich zu belasten. „Die Kinder lernen bei uns auch, wie sie mit ihrer Wut umgehen können, wie sie Nein sagen können und wie sie ihre eigenen Ressourcen stärken können“, sagt Kunsttherapeutin Danielle Deeke. Zu den Mitteln ihrer Behandlung gehören das Erarbeiten von Collagen, die plastische Arbeit mit Ton oder auch das Entwerfen von Handpuppen. All das soll die Kinder darin unterstützen, sich selbst bewusst zu werden. Dazu kommen Bewegungsangebote und ein guter Kontakt zu den Therapeuten. „Traumata, die nicht von allein weggehen, müssen therapiert werden. Sonst werden sie in der Familie an die nächste Generation weitergegeben“, sagt Stiftungs-Geschäftsführerin Hermes. Eine frühe Behandlung kann spätere Probleme vermeiden. Deshalb ist den Therapeuten der Zugang zu den Kindern schon im Grundschulalter wichtig. „Eine posttraumatische Belastung kann Schlafstörungen oder Probleme im sozialen Umgang verursachen“, erläutert Hermes. Damit behindert sie auch den Lernerfolg in der Schule – und wirkt sich stark auf das spätere Leben aus. „Letztendlich steht ein untherapiertes Trauma der Integration in unsere Gesellschaft im Weg.“ Von staatlicher Seite werden die Schulen mit den traumatisierten Flüchtlingskindern bisher alleingelassen. Deshalb erwägt „Children for Tomorrow“ mit den Erfahrungen aus dem Hamburger Pilotprojekt, auch an anderen Schulen Therapien anzubieten.
Steckbrief
Children for Tomorrow
ist die Stiftung der früheren Weltklasse-Tennisspielerin Stefanie Graf. Sie engagiert sich schon seit vielen Jahren in der Arbeit mit minderjährigen Flüchtlingen. Am Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf betreibt die Stiftung eine Flüchtlingsambulanz für junge Geflüchtete etwa im Alter zwischen 15 und 18 Jahren. Das Therapieangebot „Honighelden“ für Kinder direkt an Schulen ist neu. Die Stiftung finanziert sich vorwiegend aus Spenden.
Children for Tomorrow
Deutsche Bank AG, Hamburg
IBAN: DE49 2007 0000 0070 7000 00
www.children-for-tomorrow.de