In Rostock gab es vor 25 Jahren bei 250.000 Einwohnern zwei Kinder- und Jugendpsychiater. Mittlerweile praktizieren acht völlig ausgebuchte Kollegen, obwohl die Einwohnerzahl nur noch bei 205.000 liegt. Die mecklenburgische Hansestadt steht nur beispielhaft für die Lage in ganz Deutschland. Einerseits leiden Kinder heute schon an Störungen, die früher im Grundschulalter nicht auftraten: Aus Angst vor Mobbing oder Benachteiligung entwickeln sie phobische oder depressive Störungen, mit Beginn der Pubertät kommt selbstverletzendes Verhalten dazu.
Andererseits werden heute schon Kinder mit minimalen Auffälligkeiten in Therapieeinrichtungen gedrängt. Aus meiner Sicht zeigt das die Hilflosigkeit sowohl von Eltern als auch von pädagogischem Personal in Bildungseinrichtungen. Mütter und Väter reagieren schnell verunsichert, wenn ihr Nachwuchs sich herausfordernd verhält. Ohnehin schwinden in unserer Gesellschaft mit einem großen Anteil an Alleinerziehenden die familiären Ressourcen. Wegen des hohen Alters der werdenden Mütter stehen Großeltern weniger zur Verfügung als früher. Auch der Anteil psychisch kranker Mütter und Väter ist in den vergangenen Jahren gestiegen: Rein statistisch lebt heute in fast jeder Familie ein psychisch auffälliger Elternteil. All das kann die seelische Gesundheit der Kinder beeinflussen.
Schon in der Kita, aber auch in der Grundschule kommt den Fachkräften die Aufgabe zu, diese Defizite zumindest teilweise auszugleichen. Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher müssen ein Stück weit auch die Rolle von Elternersatzpersonen übernehmen. Denn Ganztagsschule ist nicht nur für die Wissensvermittlung da, sondern sollte auch Lebensschule sein. Vor allem der Ganztagsbereich abseits des Unterrichts hat die Aufgabe einer umfänglichen systemischen Erziehung.
Wer den Blick auf ganz Deutschland lenkt, erkennt auf diesem Gebiet enormen Nachholbedarf. Viele Einrichtungen haben zu wenig und oft auch zu wenig qualifiziertes Personal. Eltern erkennen die Fachkräfte in der Schule nicht immer vorbehaltlos als unterstützende Autorität für die Erziehung ihrer Kinder an. Dann wird es mit der Resilienzausprägung schnell problematisch: Schülerinnen und Schüler entwickeln schwer Vertrauen in die Pädagogen, wenn deren Handeln zu Hause dauernd infrage gestellt wird.
Angesichts der veränderten Familiensituationen ist die Verantwortung der Schulen für die seelische Gesundheit und die psychische Widerstandskraft der Kinder gewachsen. Diese Funktion müssen die Fachkräfte annehmen und mit guten Konzepten umsetzen. Sonst wird die Zahl der Patienten in den Kinder- und Jugendpsychiatrien weiter wachsen.
Die Stiftung „Achtung! Kinderseele“
will mit Informations- und Beratungsangeboten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter vorbeugen. Hinter der Organisation stehen die drei deutschen Fachgesellschaften der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. In ihren Projekten engagieren sich die Mediziner ehrenamtlich dafür, dass Kinder seelisch gesund aufwachsen.
www.achtung-kinderseele.org