Martin ist in der zweiten Klasse und besucht jeden Tag den Hort. Er lebt bei seinem alleinerziehenden Vater und wird nachmittags meist von einem älteren Nachbarn abgeholt, den die Kinder „Opa“ nennen. Seit einigen Wochen ist der „Opa“ im Krankenhaus, sodass Martin jeden Tag allein nach Hause oder zu einem Freund laufen muss. Zurzeit fällt in der Schule sein besonders aggressives Verhalten auf. In der Hofpause schlägt er ein anderes Kind mit einem Klotz und verletzt es schwer am Auge. Einem weiteren Kind kotet und uriniert er in die Schuhe. Zuvor hatten die pädagogischen Fachkräfte Martin nie als aggressiv erlebt.
Der Vater kann in einem Elterngespräch das Verhalten seines Sohnes nicht nachvollziehen. Er gibt an, zu Hause sei alles in Ordnung und Martin benehme sich dort nicht auffällig. Die Hortfachkräfte berichten, dass Martin Schwierigkeiten bei den Hausaufgaben zeigt. Er scheint überfordert, weil er sehr viele Mittagsaktivitäten belegt und häufig den Überblick über seine Zeiteinteilung verliert.
Nach dem Elterngespräch überlegen die Sozialpädagogen, ob das Verhalten von Martin als Hilferuf verstanden werden muss, der mit dem Rückfall in eine frühkindliche Phase einhergeht. Sie setzen sich mit der Lehrerin und der Schulsozialarbeiterin in Verbindung und nutzen zur Überprüfung ihrer Vermutung die „Einschätzskala zur Kindeswohlgefährdung für Kinder im Schulalter“ – kurz: KiWo-Skala Schulkind. Sie notieren die Gefährdungsmerkmale „kognitive Auffälligkeit“, „plötzliche Veränderung des Sozialverhaltens“, „Motivationslosigkeit“ und „Aggressivität und Delinquenz“. Die Gesamtauswertung ergibt die Vermutung, dass kindliche Wohl sei auf einer geringen Stufe gefährdet. Aber aufgrund der fehlenden Einsicht des Vaters lässt die Skala die Vermutung auf eine mittlere Gefährdungsstufe ansteigen.
Die Fachkräfte beschließen deshalb, das gesetzlich festgelegte Gespräch mit der „insoweit erfahrenen Fachkraft“ – der Kinderschutzexpertin der Jugendhilfe – zu suchen. Obwohl diese dazu tendiert, das Jugendamt einzuschalten, entscheidet sich die Einrichtung dagegen. Sie will noch abwarten, da ihr die Kindeswohlgefährdung noch nicht konkret genug erscheint. Aber sie bleibt mit dem Vater im Gespräch, beobachtet den Jungen weiter und bietet ihm vermehrt Hilfen im Alltag an.
TEST IN DER HORTPRAXIS
Die KiWo-Skala Schulkind ist eine von unserer „Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen“ (FVM) entwickelte Einschätzhilfe. Sie soll es pädagogischen Fachkräften erleichtern, Anhaltspunkte von Kindeswohlgefährdung strukturiert zu erfassen. Auf diese Weise können sie im Berufsalltag Gefährdungen systematisch bewerten. Die Skala konzentriert sich auf 6- bis 13-Jährige. Aus dieser Altersgruppe kommen etwa 40 Prozent der Opfer von Kindeswohlgefährdung. Die Einschätzhilfe kann Pädagogen bei der Entscheidung unterstützen, wann ein Einschreiten notwendig wird. Außerdem bündelt sie Informationen für die „insoweit erfahrene Fachkraft“. Ein grafisches Ablaufschema dient als Richtschnur für die weitere Vorgehensweise.
Die FVM hat die KiWo-Skala Schulkind im Auftrag des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales Baden-Württemberg entwickelt. 42 Einrichtungen der Schulkindbetreuung haben deren Praxistauglichkeit zehn Monate lang mit positivem Ergebnis getestet. Auf Basis der Rückmeldungen hat die FVM die Skala in einigen Punkten noch stärker auf im Alltag vorkommende Gefährdungsanzeichen abgestimmt. Der Einsatz der KiWo-Skala Schulkind kann aus unserer Sicht die Sensibilität für das Thema Kindeswohlgefährdung steigern. Außerdem erleichtert sie die Früherkennung, lässt die Hortfachkräfte zielsicher reagieren und gibt ihnen Sicherheit bei der Erfüllung des Schutzauftrages.
Skala mit 44 Merkmalen
Die Skala umfasst 44 Merkmale, die in folgenden Unterpunkten zur Beurteilung des Kindes gebündelt sind:
- Ernährung und Versorgung
- Wohnen, Aufsicht und Schutz
- Auffälligkeiten in der Entwicklung
- Auffälligkeiten im Sozialverhalten
- Psychische Auffälligkeiten
- Risikoverhalten, Substanzkonsum
- Körperliche Auffälligkeiten
Die Eltern betreffen folgende Unterpunkte:
- Auffälligkeiten in der Beziehung zum Kind
- Allgemeine Auffälligkeiten bei Mutter oder Vater
- Verhalten bei Ansprache auf Auffälligkeiten/ Missstände
Wir haben jeweils zahlreiche gewichtige Anhaltspunkte angeführt, die dem Beobachter bei der Entscheidung helfen, ob das Merkmal auch zutrifft. So gibt es für den Punkt „Körperliche Auffälligkeiten beim Kind, die Gewalteinwirkung nahelegen“ den Anhaltspunkt „wiederholt blaue Flecken an Stellen, an denen nur sehr selten Verletzungen durch Stürze oder beim Spielen entstehen“. Die Vielfalt der Beispiele und die genaue Beschreibung in einem beigefügten Manual sollen helfen, auffälliges Verhalten des Kindes oder der Eltern besser zu erfassen: auf der einen Seite genauer hinzuschauen und nichts zu übersehen, auf der anderen Seite aber auch keinen blinden Alarm aufgrund unzureichender Anhaltspunkte auszulösen, die „nur“ mit einem problematischen Erziehungsstil und nicht mit Kindeswohlgefährdung zu tun haben. Den Merkmalen sind jeweils Punktewerte zugeordnet, die in einer Gesamtauswertung zu einer nicht vorhandenen, einer geringen, mittleren oder hohen Gefährdungsvermutung führen. Damit können sich Erzieherinnen oder Betreuer dann in einem Schema orientieren, wie weiter vorzugehen ist.
SO REAGIERT MAN IM VERDACHTSFALL
An erster Stelle steht immer das Gespräch mit den Eltern – es sei denn, es wäre unmittelbar Gefahr für Leib und Leben des Kindes gegeben. Dann sollte das Jugendamt sofort benachrichtigt werden. Weitere Schritte sind die Information des Gesamtteams, das Einbeziehen einer „insoweit erfahrenen Fachkraft“ und die Unterrichtung des Trägers. Ab einem klar gekennzeichneten Punkt des Ablaufschemas wird empfohlen, den Kontakt zum Jugendamt anzubahnen. Diese Entscheidung obliegt immer der Einrichtung selbst. Dabei geht es stets darum, den Blick auf das Gesamtbild des Kindes und seine familiäre Situation zu richten, um beides bei einer Gefährdungseinschätzung zu berücksichtigen.
Es ist immer sinnvoll, möglichst früh den Austausch mit den Eltern zu suchen und das lokale Helfersystem zu nutzen, insbesondere die „insoweit erfahrene Fachkraft“. Wo immer möglich, sollte ein Vertrauensverhältnis mit den Eltern aufgebaut werden, damit diese bei der Kontaktaufnahme mit dem Jugendamt einer Entbindung von der Schweigepflicht zustimmen. Nur dann darf die Behörde die jeweilige Betreuungseinrichtung über den weiteren Verlauf informieren. Darauf abgestimmt können die Pädagogen entscheiden, wie sie die betroffene Familie unterstützen. Denn die Risikoabschätzung ist nur der erste Schritt. Die konkrete Arbeit zum Schutz der Kinder beginnt danach.
MEHR SICHERHEIT, ABER KEINE GEWISSHEIT
Die KiWo-Skala Schulkind kann eine Kindeswohlgefährdung nicht diagnostizieren. Sie ist aber ein praktisches Hilfsmittel, um das vorhandene Bauchgefühl der Fachkräfte systematisch zu konkretisieren und mehr Sicherheit über einen Fall zu erlangen. Darüber hinaus können weitere Bausteine dabei helfen, dass jedes Betreuungsinstitut seinen Schutzauftrag erfüllt. Jede Einrichtung sollte zu externen Helfersystemen Kontakt pflegen. Bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung müssen Abläufe und Zuständigkeiten klar sein. Wichtig sind auch ein Beschwerdemanagement zur Sicherung der Kinderrechte innerhalb der Einrichtung und Qualifizierungsmaßnahmen zum richtigen Umgang mit einer Gefährdungsvermutung. Die Betreuungseinrichtung muss Eltern den Zugang zu geeigneten Hilfsangeboten öffnen können. Nur wenn die Nöte und Zwänge der betroffenen Familien sowie auch ihre Stärken anerkannt werden, kann es gelingen, dass die Eltern gemeinsam mit den Fachkräften das Risiko einer Veränderung eingehen. Auch in unserer Praxisstudie gelang der Zugang zu den Familien nicht immer. Zwar konnten mit 69 Prozent der Eltern Vereinbarungen getroffen werden, aber nur 38 Prozent davon wurden eingehalten. Dies sollte die Fachkräfte im Hort allerdings nicht davon abhalten, Anzeichen von Kindeswohlgefährdung professionell und sensibel bei den Eltern anzusprechen.
Die KiWo-Skala Schulkind wird wie die für den frühpädagogischen Bereich entwickelte KiWo-Skala Kita inzwischen in vielen Einrichtungen bundesweit eingesetzt. Die KiWo-Skala zum Download im Internet:
www.kvjs.de/jugend/kinderschutz/kiwo-skala-kinderschutz- in-tageseinrichtungen.html