"Wir sollten Kindern zuhören"Interview mit Kinderschutz-Experte Jörg Maywald

Oft registrieren Erwachsene nicht, wenn Mädchen und Jungen Hinweise geben, dass sie gefährdet sind. Der Kinderschutz-Experte Jörg Maywald sieht bei vielen Fachkräften Fortbildungsbedarf.

„Wir sollten Kindern zuhören“
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klasseKinder!: Welche Rolle spielt der Schutz vor Kindeswohlgefährdung in Schule und Betreuung?
Jörg Maywald: Kinderschutz ist für alle, die mit Kindern arbeiten, eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Oft stehen Fachkräfte in der Kritik, dass sie entweder zu früh oder zu spät intervenieren. Es gibt klare Situationen für ein Eingreifen, zum Beispiel wenn ein Elternteil schwer drogenabhängig ist. Auch wenn das Kind noch nicht misshandelt, vernachlässigt oder missbraucht wird, kann die Schwelle zur Gefährdung überschritten werden – wenn zum Beispiel ein gesundes Elternteil den suchtkranken Partner verlässt und das Kind zurücklässt. Aber letztlich ist die Entscheidung einer Fachkraft für oder gegen eine Intervention immer auch subjektiv gefärbt.

Sind die Fachkräfte Ihrer Meinung nach in der Regel ausreichend ausgebildet, um Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung zu erkennen?
Das fachliche und auch das gesellschaftliche Bewusstsein, dass jede Person, die beruflich mit Kindern zu tun hat, auch Kinderschutzverantwortung trägt, ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Die meisten Pädagogen verstehen ihren Job heute nicht nur als Bildungs-, sondern auch als erzieherische Aufgabe. Dazu gehört der Kinderschutz. Trotzdem sehe ich enormen Aus- und Fortbildungsbedarf. Es gibt noch immer viele Unsicherheiten sowohl in juristischer als auch in pädagogischer Hinsicht. Praktische Kenntnisse fehlen ebenfalls oft: Wie rede ich mit Eltern im Verdachtsfall, ohne zu dramatisieren oder zu banalisieren? Zudem ist es eine Herausforderung, die Eltern für Hilfen zu gewinnen.

Hat sich die Ausbildung in diesen Punkten weiterentwickelt?
Ich kann nicht das Lehramtsstudium einschätzen, sondern nur den Jugendhilfebereich. Da hat sich viel getan, aber trotzdem gibt es große Lücken und einen hohen Bedarf an Weiterbildung.

Worauf sollten Fachkräfte achten, um Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung zu erkennen?
Vor allem sollten wir Kindern zuhören. Sie berichten häufiger als landläufig angenommen über bedrückende Vorkommnisse. Oft wird aber nicht gehört, was Kinder sagen. Auch weil das Thema für uns vielleicht nicht angenehm ist. Gerade im Bereich des sexuellen Missbrauchs ist bekannt, dass ein Kind durchschnittlich fünf bis sieben Anläufe braucht, bevor ihm überhaupt Gehör und Glauben geschenkt werden. Natürlich drücken sich Kinder manchmal nicht klar aus, weil sie in einem Konflikt stecken. Sie lieben ja trotz allem ihre Eltern und sind auf sie angewiesen.

Es gibt ganz verschiedene Gefahren für das Kindeswohl. Vermutlich ist es am leichtesten zu erkennen, wenn ein Mädchen oder Junge Gewalt ausgesetzt ist, oder?
Auch dafür sind die Anzeichen nicht immer eindeutig. Bei körperlichen Verletzungen müssen Fachkräfte zunächst einmal überhaupt in Erwägung ziehen, dass diese keine Folge eines Unfalls sind. Sondern dass die Ursache möglicherweise bei einer nahen Bezugsperson – nicht immer den Eltern – zu suchen ist. Fachkräfte sollten bei den Eltern darauf drängen, dass die Herkunft einer Verletzung ärztlich geklärt wird. Wenn sich Mutter oder Vater dann weigern, ist dies ein Alarmzeichen.

Noch schwerer sind sicher die seelischen Verletzungen zu erkennen?
Die Zeichen dafür können vielfältig sein, ich kann deshalb nur Beispiele nennen: Plötzliche starke Veränderungen im Verhalten oder der Stimmung eines Kindes können ein Hinweis sein. Eine gute Schülerin oder ein guter Schüler mit einem plötzlich drastischen Leistungsabfall sollte ebenfalls hellhörig machen. Das kann auch andere Ursachen haben. Aber dann sollte man dem Kind, ohne zu drängen, das Angebot machen: Du kannst mir etwas erzählen, wenn du das möchtest.

Sollte man die Eltern darauf ansprechen?
Bei entsprechenden Anzeichen sollte man sie zu einem Gespräch einladen nach dem Motto: „Sie sind die Eltern, Sie sind am wichtigsten für Ihr Kind. Wir machen uns an einigen Punkten Sorgen und Sie sind natürlich die Ersten, denen wir das mitteilen.“ Die weitere Einschätzung hängt stark davon ab, wie die Eltern reagieren. Ob sie sich die Bedenken bereitwillig anhören, die andere haben. Oder ob sie abwehren oder sogar gleich aggressiv werden. Das ist dann natürlich beunruhigend.

Sollte jede Schule einen Plan für das Verhalten im Verdachtsfall bereithalten?
Auf jeden Fall. Ohnehin ist jede Einrichtung, die Kinder betreut, nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz verpflichtet, mit dem zuständigen Jugendamt eine Vereinbarung zu schließen über die Vorgehensweise bei gewichtigen Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung. Das heißt dann auch zu wissen, wer ansprechbar ist und welche Schritte eingeleitet werden müssen (siehe Seite 25).

Wie sollte ein Gespräch mit den Eltern ablaufen, wenn eine Gefährdung vermutet wird?
Nicht um den heißen Brei herumreden. Natürlich freundlich, aber schnell zur Sache kommen, in einer sachlichen Art und Weise Klartext reden und die eigene Einschätzung der Situation darstellen. Aber auch offen sein für die Perspektive der Eltern. Wir haben nicht das Recht, Eltern ihre Sicht der Dinge auszureden. Selbstverständlich sind Konflikte nicht ausgeschlossen. Dann muss eben jemand Drittes entscheiden, das Jugendamt oder am Ende ein Gericht. Aber in vielen Fällen nehmen Eltern auch dankbar Hilfe an.

Im Kinderschutz spielt Vorbeugung eine große Rolle. Sollte sich eine Schule oder ein Hort in diesem Sinne gleich am ersten Elternabend als Hilfe zum Beispiel für überforderte Eltern anbieten?
Das ist sinnvoll, ich würde es aber anders formulieren und als Bestandteil eines funktionierenden Beschwerdemanagements darstellen. Unter dem Stichwort „Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ sollten sich Eltern mit allen Sorgen um ihr Kind an die Fachkräfte wenden können. Umgekehrt gilt das genauso. Die Eltern sind so wichtig für die Kinder, viel wichtiger als die Pädagogen. Wenn also die Pädagogen sich Sorgen um ein Kind machen, sollten sie darüber zeitnah mit den Eltern sprechen. Damit Mutter und Vater sich mit den Sorgen der Schule oder des Horts beschäftigen und bei Bedarf ihren Anspruch auf Hilfe wahrnehmen können.

In einem Schutzraum sollte eine vertrauensvolle Atmosphäre herrschen. Beeinflusst der Umgang der Fachkräfte untereinander auch die Qualität eines „Schutzraumes Schule“ vor Kindeswohlgefährdung?
Die Schulkultur ist ein Einflussfaktor auf die Arbeitseinstellung des einzelnen Mitarbeitenden. Aber es gibt auch den Faktor individueller Unzulänglichkeit – ob wegen Ausbildungsdefiziten oder vor dem Hintergrund unverarbeiteter eigener biografischer Erfahrungen. Ein gutes Konzept ist wichtig, aber kann nicht alles garantieren.

Spielt die personelle und strukturelle Ausstattung beim Kinderschutz eine Rolle?
Untersuchungen zeigen, dass die sogenannte Prozessqualität – also das, was mit den Kindern tatsächlich passiert – zwar zu etwa 30 bis 40 Prozent von der sogenannten Strukturqualität – also von der Schulausstattung, abhängt. Aber eben nicht zu hundert Prozent. Man kann mit einer guten Ausstattung nicht automatisch sicherstellen, dass jeder und jede Mitarbeitende die Kinder respektvoll behandelt. Oder dass der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung automatisch wahrgenommen und fachgerecht gehandelt wird.

Helfen Schutzkonzepte für die ganze Einrichtung?
Schutzkonzepte beziehen sich nach dem Verständnis des Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, insbesondere auf den institutionellen Kinderschutz in der Schule, nicht auf das familiäre Umfeld. Ich halte diese Abgrenzung für zu eng und wünsche mir breitere Schutzkonzepte, die die gesamte Bandbreite bis in den familiären Bereich abdecken und sich nicht allein auf sexualisierte Gewalt beziehen. Das ist an Kitas schon weiter verbreitet als in der Grundschulbetreuung. Die Schulen haben keinen so dichten Elternkontakt wie die Kitas. Damit haben sie auch den familiären Bereich nicht so stark im Blick. Das sollte sich ändern.

Das Gespräch führte Sven Kästner.

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