Fast 2,7 Millionen Kinder wachsen hierzulande gegenwärtig in relativer Armut auf. Das hat der Paritätische Wohlfahrtsverband für seinen „Armutsbericht 2016“ ermittelt. In manchen Regionen ist jedes dritte Kind betroffen. Die Autoren des Berichts haben die Armutsgrenze bei 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens gezogen. Damit gilt ein Paar mit zwei Kindern im Grundschulalter derzeit als arm, wenn es im Monat über weniger als 1.926 Euro verfügt. Bei Alleinerziehenden mit einem Kind liegt die Schwelle bei 1.192 Euro. In anderen Studien werden Kinder dann als arm bezeichnet, wenn sie in Familien aufwachsen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind.
In jedem Fall kann die finanzielle Not für Mädchen und Jungen ganz konkrete Folgen haben: niedrigere Bildungschancen etwa oder ein eingeschränktes Sozialleben. Kinder- und Jugendärzte weisen zudem darauf hin, dass arme Kinder auch häufiger krank werden. Zudem erhalten sie seltener Medikamente als Kinder aus gesicherten finanziellen Verhältnissen und ernähren sich ungesünder.
Schon wenn sie in die Schule kommen, fehlen vielen armen Kindern bestimmte Erfahrungen. Deren Eltern müssen im Schnitt mehr Zeit für die Erwirtschaftung des Lebensunterhaltes aufwenden als Gutverdiener. Entsprechend bleibt weniger freie Zeit zum Vorlesen, für Familienausflüge oder den Besuch im Schwimmbad. In der frühkindlichen Phase kann sich das auf die Hirnentwicklung auswirken, was dann in der Schule zu spüren ist. Außerdem fehlt den Familien oft das Geld für Sportkurse, den Theaterbesuch oder außerschulische Bildungsangebote.
Untersuchungen belegen, dass armutsgefährdete Kinder in naturwissenschaftlichen Fächern und bei der Lesekompetenz im Vergleich zu Kindern aus gesicherten finanziellen Verhältnissen einen Leistungsunterschied von bis zu einem Jahr aufweisen. Claudia Laubstein, Gerda Holz und Nadine Seddig vom Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) kommen in ihrer aktuellen Studie „ Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche“ im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zu dem Ergebnis, dass die gesamte Bildungsbiografie armer Kinder deutlich belasteter ist als die anderer Heranwachsender. Schon beim Schulstart werden sie häufiger wegen Entwicklungsverzögerungen zurückgestellt. Sie wiederholen überdurchschnittlich oft eine Klasse, erhalten schlechtere Noten und werden seltener für das Gymnasium empfohlen.
EMOTIONALE ARMUT
In der sozialen Entwicklung kann Armut ebenfalls Defizite verursachen. So wachsen betroffene Kinder teils isoliert auf. Viele Familien leben in kleinen Wohnungen. Deshalb und teils auch aus Geldnot unterbinden die Eltern Besuche von Freunden. Die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten können das Familienklima belasten und zu Streitigkeiten führen. Die 1997 begonnene Langzeituntersuchung des ISS für die Arbeiterwohlfahrt (AWO-ISS-Studie) ergab unter anderem, dass sich bereits im Alter von sechs Jahren bei 36 Prozent der armen Kinder soziale und emotionale Auffälligkeiten zeigten. Das ist doppelt so häufig wie bei Gleichaltrigen aus gesicherten ökonomischen Verhältnissen. Auch diese Armutsauswirkungen können den Bildungserfolg gefährden.
„Nicht alle armen Kinder schneiden schlecht in der Schule ab, haben wenige Freunde, rauchen früh ihre erste Zigarette und müssen ihr Zimmer mit Geschwistern teilen“, betont Gerda Holz, die als wissenschaftliche Referentin im ISS an der AWOUntersuchung, der jüngsten Bertelsmann-Studie und auch an der Expertise „Kinder in Armutslagen“ beteiligt war. „Aber diese Einschränkungen sind typisch für arme Kinder, während sie bei Kindern aus besser situierten Familien als untypisch anzusehen sind.“ Heinz Hilgers, der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, zieht daraus den Schluss: „Wenn man den Kindern wirklich helfen will, muss man auch bei den Eltern ansetzen.“ (sk)