Halt! Bleib’ stehen!“ – Diana Stumpp hält abrupt und bremst die neunjährige Ashley ab, die neben ihr läuft. „Schau mal, da“, zeigt sie auf den Weg. Vor den beiden sitzt im Sand ein leuchtend blauer Schmetterling. „Beißt der?“, fragt Ashley. Sie hat ein wenig Angst, doch Diana Stumpp beruhigt das Mädchen. Das Schlimmste, was der Schmetterling machen könne, sei, wegzufliegen, sagt sie. Ashley geht langsam in die Hocke und streckt vorsichtig ihre Hand aus. Der Schmetterling verharrt – und flattert dann los. „Hey, das hast du gut gemacht“, sagt Diana Stumpp und nimmt Ashley in den Arm. Das Mädchen lacht.
Die beiden kennen sich über das Projekt SALAM. SALAM steht für „Spielen-Austauschen-Lernen-Achtsam-Miteinander“ und wurde 2009 an der Pädagogischen Hochschule (PH) Freiburg begonnen. Die Idee dahinter: Studierende übernehmen für zwei Semester eine Patenschaft für ein Grundschulkind. Sie treffen sich einmal in der Woche für zwei, drei Stunden, um gemeinsam zu spielen, ins Schwimmbad zu gehen, Pizza zu backen, den Zoo zu besuchen – was immer das Kind sich wünscht. „Das soll bewusst keine Nachhilfe sein“, sagt Hildegard Wenzler-Cremer vom Institut für Psychologie an der PH, die das Projekt leitet. „Wir wollen, dass Kinder, die zu Hause nicht so viel Aufmerksamkeit bekommen, weil die Eltern zum Beispiel sehr viel arbeiten oder es eine Familie mit vielen Kindern ist, merken: Da kümmert sich jemand mal nur um mich.“ Ursprünglich richtete sich das Projekt, das seinen Vorläufer im schwedischen Malmö hat, an Kinder mit Migrationshintergrund. Doch der Patenschaftsgedanke kam so gut an, dass inzwischen auch viele Kinder ohne Migrationshintergrund teilnehmen.
Zum ersten mal in die Bibliothek
„Wir überlassen es den Lehrern, welche Kinder sie vorschlagen“, sagt Hildegard Wenzler-Cremer. Kinder mit auffallend starkem Medienkonsum, Kinder, die Mobbing erleiden oder offensichtlich unterfordert sind, Kindern, denen es an Selbstvertrauen mangelt oder die sich plötzlich zurückziehen, gewaltbereite Kinder – das alles sind mögliche Kandidaten für das Patenschaftsprogramm. Indem ein junger Studierender in ihr Leben tritt, machen sie ganz neue Erfahrungen, etwa in der Wohngemeinschaft ihres Paten oder in der Stadtbibliothek. „Wir haben die ganze Welt gesehen“, berichtete ein Schüler, der mit seiner Patin auf Freiburgs kleinen Hausberg – den Schlossberg – gestiefelt war.
Nicht zuletzt haben die Schüler und Schülerinnen einen Menschen bei sich, der die Schule erfolgreich durchlaufen hat und jetzt studiert. Ein Vorbild, möglicherweise, und ein Mensch, der Perspektiven aufzeigt. Eine spezielle Schulung für ihre Aufgabe als Paten bekommen die Studierenden nicht. „Das sind ja alles zukünftige Lehrkräfte und Pädagogen, die wissen, wie wichtig es ist, auf das Kind und seine Bedürfnisse zu schauen“, sagt Hildegard Wenzler-Cremer. Allerdings besuchen die Studierenden alle zwei Wochen eine Begleitveranstaltung mit supervisorischem Charakter. Hier werden die Erlebnisse mit den Schülern besprochen. Wo gibt es Ängste, mit denen die Paten umgehen müssen? Was tun, wenn die Eltern die Patenidee nicht unterstützen? Wie ein Kind aus der Reserve locken? Die Studierenden sollen im Laufe der zwei Semester nicht nur ein vertrauensvolles Verhältnis zu „ihrem“ Kind aufbauen, sondern auch dessen soziale Kompetenzen stärken. „Das fängt bei ganz einfachen Dingen an, wenn die Kinder zum Beispiel ihre Wünsche artikulieren und aushandeln sollen, was sie heute unternehmen möchten“, erklärt Hildegard Wenzler-Cremer.
Kontakt halten
Auch Ashley überlegt Woche für Woche, was sie gerne machen möchte: Kekse backen, Skibbo spielen, schwimmen gehen ... Heute spaziert sie einfach mal zwei Stunden mit ihrer Patin durch die Stadt. „Diana ist eine meiner besten Freundinnen“, erzählt sie, als beide auf einer kleinen Bank Pause machen. Wenn sie sich über Mitschülerinnen ärgert, Kummer mit nahen Menschen hat, dann erzählt sie das Diana Stumpp. Die Studentin hört zu, muntert auf und versucht, gemeinsam mit Ashley, eine Lösung zu finden. Oft ist das einfach eine andere Sichtweise auf die Dinge. Für Ashley ist es eine ganz neue Erfahrung, dass da ein Mensch ist, der sich so intensiv für sie interessiert. Nur für sie allein. Ihre Eltern leben getrennt, sie ist am Wochenende bei der Mutter, unter der Woche beim Vater. Zwischendurch passen auch mal die Großeltern und eine Tante auf sie auf. Die wöchentlichen Treffen mit Diana sind eine Konstante.
Die Idee einer Patenschaft reizte Diana Stumpp schon lange. „Aber ich wollte es etwas persönlicher, nicht jeden Monat einen gewissen Betrag irgendwohin überweisen und gut ist“, sagt die 21-Jährige. Die Freundschaften, die durch SALAM entstehen, halten oft auch länger als die zwei Semester, die das Projekt dauert. Viele Studierende, sagt Wenzler-Cremer, würden den Kontakt zu dem Kind freiwillig weiter halten.
Das hat auch Diana Stumpp vor, Ashley ist ihr ans Herz gewachsen. Die Studentin wird im Herbst für ein Semester nach Kanada gehen und hat Ashley versprochen, sich von dort aus zu melden. „Danach sehen wir uns auf jeden Fall wieder, wenn vielleicht auch nicht so oft wie jetzt“, sagt Diana Stumpp. Daran mag Ashley heute nicht denken. „Jetzt sind wir so weit gelaufen“, sagt sie, „dafür gönnen wir uns jetzt ein Eis.“ Auf dem Weg zur Eisdiele schiebt Ashley ihre Hand in die von Diana. So wie beste Freundinnen das eben tun.