Gute Ideen entstehen oft in schwierigen Situationen. Im Fall der Kasseler Valentin- Traudt-Schule waren es gleich mehrere Dinge, die nicht rundliefen. Bälle, Brett- und Kartenspiele, Bastelmaterialien oder das Bowling-Set für den Außenbereich wurden regelmäßig beschädigt und verschwanden manchmal sogar ganz, erzählt die Ganztagskoordinatorin Verena Bandulewitz. Manchmal hätten die Kinder nach Schulschluss den Fußball mit nach Hause genommen, um dort weiterzukicken – und dann vergessen, den Ball zurückzubringen. „Anstatt Wertschätzung für die schuleigenen Sachen war da nur Gleichgültigkeit und eine Mir-doch-egal-Haltung“, beschreibt Bandulewitz das Klima.
Um den Schwund aufzuhalten, führte sie schließlich einen Ausleihdienst ein. Die Spielgeräte landeten hinter einer Theke. Wer damit spielen wollte, musste die Betreuer um Erlaubnis fragen, die dann Namen und Klasse notierten. Doch damit ergab sich ein anderes Problem: Zwar sorgte das Ausleihsystem für mehr Kontrolle. Aber die zusätzliche Arbeitsaufgabe kostete das pädagogische Personal wertvolle Zeit. „Immer dann, wenn wir uns mit einem Mädchen oder einem Jungen hingesetzt hatten, um zu arbeiten oder etwas zu besprechen, kam ein anderes Kind und wollte ein Spielgerät ausleihen“, sagt Bandulewitz. An Tagen mit personeller Unterbesetzung verschärfte sich die Situation noch, pädagogische Arbeit war kaum möglich. Wenn zu viele Aufgaben auf zu wenig Schultern verteilt sind, hilft es, sie zu delegieren. Die Ganztagskoordinatorin überlegte, wie es wäre, wenn man den Kindern die Verantwortung für die Ausleihe übergäbe. Dann hätten die Betreuer Zeit für ihre wesentlichen Aufgaben. Und die Kinder könnten lernen, sich aktiv für die Schulgemeinschaft einzusetzen.
Eine gute Sache für eine Schule, die in einer nicht ganz einfachen Gegend liegt. Der Kasseler Stadtteil Rothenditmold gilt als sozialer Brennpunkt. Hier leben überdurchschnittlich viele Familien, die ihre Wurzeln nicht in Deutschland haben. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Einige Kinder, die die Valentin-Traudt- Schule besuchen, kennen zu Hause keine festen Strukturen oder fallen durch herausforderndes Verhalten auf. Wie motiviert man diese Jungen und Mädchen, freiwillig einen Bibliotheksservice für Spielsachen zu übernehmen? „Uns war klar, dass wir einen guten Titel für diese Tätigkeit finden mussten. ‚Ausleihdienst‘ hätte nicht funktioniert“, erzählt Bandulewitz. Nach einiger Überlegung einigte sich das Kollegium auf „Game Manager“ – einen Namen, der lässig klingt, aber ebenso die Wichtigkeit und die Verantwortung des neuen Jobs ausdrückt. Dann setzten die Pädagogen eine Schulung an. Der Clou dabei: Die Ausbildung zum Game Manager lief während der Unterrichtszeit, die Kinder durften dafür Schulstunden sausen lassen. „Das war eine Verkettung cooler Ereignisse, die nicht zu toppen war“, sagt Bandulewitz.
AUS „MIR DOCH EGAL“ WIRD „WIR KÜMMERN UNS“
Schon beim ersten Durchgang meldeten sich etwa 30 Kinder. „Wir haben mit ihnen verschiedene Szenen durchgespielt. Etwa wenn jemand ein Spiel zurückbringt, dem man ansieht, dass es ruppig behandelt wurde.“ Auch der Umgang in kritischen Situationen wurde geübt. Die Kinder sollten verstehen, dass sie zwar verantwortlich, aber nicht auf sich allein gestellt sind. Sollte eine Situation eskalieren, befinden sich die Betreuerinnen und Betreuer in Rufweite.
Aber dazu kam es in der zweijährigen Geschichte der Game Manager nie. Das Amt und die Aufgabe wurden von Anfang an von allen Schülern respektiert. Inzwischen ist die Tätigkeit so beliebt, dass sich die Kinder darum reißen, erzählt Bandulewitz. Fast 40 Game Manager gibt es inzwischen an der Valentin-Traudt-Schule. Jeweils zwei können in der Spielzeugausleihe arbeiten. Die Kinder regeln unter sich, wer an der Reihe ist.
Seitdem die Schülerinnen und Schüler die Ausgabe selbst organisieren, ist kein Spielgerät mehr verschwunden oder beschädigt worden. Die Kinder haben gelernt, dass sie mehr davon haben, wenn sie auf das Spielzeug aufpassen. Wenn ein Fußball aus Versehen über den Zaun oder aufs Dach des Nachbargebäudes fliegt, bleibt er dort nicht mehr liegen. Stattdessen benachrichtigen die Kinder einen der Game Manager und überlegen zusammen, was zu tun ist. Mit der eigenen Verantwortung ist das persönliche Engagement der Schülerinnen und Schüler gestiegen. So habe das Projekt auch dazu beigetragen, dass sich die Kinder wieder mit ihrer Schule identifizieren, sagt Bandulewitz. „Das Gefühl, selbst etwas bewirken zu können, war für sie extrem wichtig.“
Steckbrief
Schulform: Die Valentin-Traudt-Schule ist eine offene Ganztagsgrund- und Mittelstufenschule im hessischen Kassel mit inklusivem Unterricht. Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf werden gemeinsam unterrichtet.
Schüler: 600 Kinder besuchen hier die 1. bis 10. Klasse. Im Jahr 2016 hat die Valentin-Traudt-Schule gut 100 aus dem Ausland zugezogene Kinder ohne Deutschkenntnisse aufgenommen. Die meisten davon sind Flüchtlinge.
Ganztag: Die Nachmittagsbetreuung erfolgt zweigleisig. Zum einen gibt es seit vielen Jahren eine Zusammenarbeit mit zwei städtischen Hortträgern, die eine Betreuung bis 17 Uhr anbieten. Zum anderen sind im Jahr 2015/16 die ganztägigen Angebote für die Grundschüler (Mittagessen, Freizeitbetreuung und AGs) an der Schule selbst ausgebaut worden.
Verena Bandulewitz betreut hier als Ganztagskoordinatorin zusammen mit drei festen Mitarbeitern die Grundschulkinder. Gleichzeitig ist sie als sogenannte „Sozialarbeiterin an Grundschulstandorten“ dafür zuständig, die Entwicklung der Ganztagsschule zu begleiten. Neben den Game Managern hat sie noch andere identitätsstiftende Projekte angestoßen, etwa den gemeinsamen Schulsong „Valentin traut sich was“.
www.valentin-traudt-schule-kassel.de