klasseKinder!: In diesem Jahr sind einige Mobbing-Angriffe auf jüdische Kinder in der Grundschule öffentlich geworden. Ist religiös motiviertes Mobbing schon in der Primarstufe weit verbreitet?
Saba-Nur Cheema: Zunächst würde ich nicht von religiös motiviertem Mobbing sprechen, denn Antisemitismus hat nicht immer etwas mit Religion zu tun. Antisemitisches Mobbing trifft es eher – ob religiös motiviert oder nicht, ist zweitrangig. Wichtig ist zu verstehen, dass jemand aufgrund einer religiösen Zugehörigkeit angegriffen wird. 80 Prozent der an unseren Beratungen teilnehmenden Pädagoginnen und Pädagogen kommen zwar aus weiterführenden Schulen, die restlichen aber aus Grundschulen. Es gibt also auch dort Fälle.
Wie äußert sich Diskriminierung in dieser Phase der Kindheit?
Im Unterschied zu älteren Schülerinnen und Schülern haben Grundschulkinder noch kein gefestigtes Weltbild. Sie plappern eher nach, was sie von ihren Eltern hören. Ein Beispiel aus unseren Beratungen: Ein Mädchen wollte die Hand ihrer schwarzen Mitschülerin nicht halten und begründete dies mit Aussagen ihrer Mutter: Man solle Schwarze nicht anfassen, die würden stinken.
Sind religiöse Unterschiede in diesem Alter schon ein Thema?
Die Kinder haben in aller Regel keine großen Vorstellungen davon, was unterschiedliche Religionen sind. Aber „Du Jude“ als Schimpfwort – das hört man auch auf den Höfen von Grundschulen. Andererseits können auch schulische Regelungen wie ein generelles Kopftuchverbot für Kinder diskriminierende Signale senden. Man kann den Hidschab, also das muslimische Kopftuch, für Mädchen in diesem Alter kritisch sehen. Aber ein offizielles Verbot vonseiten der Schule ist aus meiner Sicht eine klare Benachteiligung.
Auf welche Anzeichen sollten Fachkräfte achten, um religiöse Ausgrenzung in der Klasse nicht zu übersehen?
Ganz generell ist Mobbing oft schwer zu erkennen. Fachkräfte sollten wissen, wie die Kinder in der Klasse miteinander umgehen, und darauf Einfluss nehmen. Lehr- und Betreuungskräfte an Grundschulen sind zuweilen nicht so vertraut mit Themen wie Antisemitismus und Rassismus. Das sollte aus meiner Sicht in die Ausbildung integriert werden, damit die Fachkräfte besser auf diese Probleme des Berufsalltages vorbereitet sind. Wenn ein Schüler beispielsweise ausgegrenzt wird, weil er Jude ist, dann ist das nicht nur ein Problem für die betreffende Schule, sondern für die ganze Gesellschaft.
Wie sollten sich Erzieherinnen und Erzieher verhalten, wenn in der eigenen Klasse religiöse Diskriminierung auftritt?
Wir empfehlen, nach dem sogenannten PIN-Prinzip mit drei verschiedenen Konfliktphasen vorzugehen: Prävention, Intervention, Nachsorge.
An erster Stelle sehen Sie also die Vorbeugung?
Auf jeden Fall. Dabei geht es um Dinge wie Klassenregeln, in denen der gute Umgang miteinander festgelegt wird. Die Klasse kann als Gruppe gestärkt und gleichzeitig die Individualität der Mädchen und Jungen zugelassen werden. Unterschiede zwischen den Schülern sollten nicht als Problem thematisiert, sondern als Normalität behandelt werden. Pädagogen können Verständnis für die Unterschiede zwischen Menschen wecken. Das hat auch mit der eigenen Haltung zu tun. Deshalb ist Selbstreflexion für Fachkräfte sehr wichtig, frei nach dem Motto: lieber vorurteilsbewusst als scheinbar vorurteilsfrei.
Wie könnte eine Intervention in einem konkreten Fall von Diskriminierung aussehen?
Man muss immer reagieren, auch bei den kleinsten Anfängen. Wenn Erzieher oder Lehrer sehen, dass ein Schüler wegen seiner Religion beschimpft wird, müssen sie sofort einschreiten und sagen: Stopp, das geht nicht. Eine Begründung ist in diesem Moment nicht nötig, ein Hinweis auf die Klassenregeln genügt. Es reicht zunächst, den Übergriff zu stoppen, um das Opfer zu schützen. Dieses Wissen entlastet auch die jeweilige Fachkraft.
Ganz ohne Erklärung kann man einen solchen Vorfall aber nicht stehen lassen.
Deswegen gehört auch Nachsorge zu unserem Konzept. Am nächsten oder übernächsten Tag kann man mit dem Angreifer sprechen. Auch die Zusammenarbeit zwischen Betreuern und Lehrkräften ist wichtig: Eine Unterrichtseinheit zu den Themen Religion und Religionsfreiheit kann aufklären. Da gibt es Konzepte auch für die Grundschule. Es geht dabei nicht um den Inhalt der verschiedenen Religionen, sondern es sollte vermittelt werden: Diskriminierung ist keine legitime Reaktion auf Unterschiede und wird hier nicht geduldet.
Können Fach- und Lehrkräfte auch Einfluss aufs Elternhaus nehmen?
Wenn sie das Gefühl haben, dass dort das Problem liegt, sollten sie die Familie einbeziehen. Dafür können sie sich Hilfe von Kolleginnen, Kollegen oder auch von außen holen. Den Eltern muss klar gemacht werden, dass die Benachteiligung bestimmter Kinder an der Schule nicht geduldet wird.
Das Gespräch führte Sven Kästner.