Es ist noch stockdunkel an diesem Wintermorgen kurz nach sieben, das Thermometer zeigt Minusgrade. Offiziell ist die „Grundschule Kinderhaus West“ im Norden Münsters erst ab 07.45 Uhr geöffnet. Die ersten Kinder sind trotzdem schon da, manche bereits seit zwanzig Minuten. Schulsozialarbeiter Felix de l‘Espine, ein kumpelhafter Typ mit kurzen Haaren und Vollbart, hat die frühen Gäste wie jeden Morgen in Empfang genommen. Jetzt sitzen sie mit kleinen Augen bei gedimmtem Licht in der Kinderküche der Ganztagsabteilung. Zwei Rentnerinnen servieren den fast 20 Schülerinnen und Schülern Brötchen mit Belag, dazu etwas Obst und heißen Kakao oder Saft.
„Wir wollen den Kindern, die zu Hause nicht die Möglichkeit haben zu frühstücken, eine erste Mahlzeit bereitstellen“, sagt de l‘Espine. „Manche Eltern sind mit der Zubereitung des Frühstücks überfordert oder müssen schon sehr früh arbeiten. Das passt mit den Zeiten der Schule einfach nicht zusammen.“ Seit einigen Jahren schon organisiert deshalb ein Hilfsverein das tägliche Frühstück in der Schule. Seniorinnen und Senioren bereiten es ehrenamtlich vor.
Auf den ersten Blick erstaunen solche Probleme ausgerechnet in Münster. Die 310.000-Einwohner-Stadt in Westfalen gilt als wohlhabend, in Statistiken zur Lebensqualität steht sie regelmäßig ganz oben. Aber hier im Stadtteil Kinderhaus, gut sechs Kilometer von der historischen Innenstadt entfernt, gehören viele Anwohner zu den sozial Benachteiligten. Sie leben meist im Wohngebiet Brüningheide, wo seit den Siebzigerjahren zahlreiche Hochhäuser mit Sozialwohnungen entstanden sind. Das Viertel grenzt im Süden direkt an eine teure Einfamilienhaussiedlung mit entsprechend zahlungskräftiger Einwohnerschaft. Genau zwischen diesen beiden Welten liegt die Grundschule, ein teils zweistöckiges und etwas verzweigtes Gebäude.
Kinderarmut ist hier ein bestimmendes Thema: Etwa 70 Prozent der Mädchen und Jungen kommen aus Familien mit Sozialleistungsbezug. Dabei betrachten die Pädagogen Armut differenziert: „In finanzielle Not kann jeder Mal geraten. Das heißt nicht, dass man deshalb sein Kind vernachlässigt. Aber wir haben es auch mit emotionaler Armut zu tun“, sagt Sozialarbeiter de l‘Espine. Er berichtet von Müttern und Vätern, die auch schon weitgehend sich selbst überlassen aufwuchsen, weil bereits ihre Eltern arbeits- und orientierungslos waren. „Diese Generationen haben eine andere Wertigkeit gegenüber ihrem Nachwuchs entwickelt. Die achten nicht genug auf ihre Kinder – mitunter wissen sie es einfach nicht besser.“
MORGENDLICHER WECKANRUF
Mit einigen dieser Eltern hatte der Sozialarbeiter schon an diesem Morgen Kontakt. Regelmäßig um 7 Uhr ruft er bei den Familien zu Hause an, die nicht in der Lage sind, rechtzeitig aufzustehen und die Kinder in die Schule zu schicken. Reicht auch das telefonische Wecken nicht aus, holt er die Kinder aus der Wohnung ab. Schon seit Jahrzehnten reagiert die Schule mit diesem Blick für die Interessen der Kinder auf die Umstände im Viertel. „Vor 30 Jahren hat man festgestellt, dass viele Schüler zu Hause kein Mittagessen bekommen“, berichtet Rektorin Karin Herzog, die damals noch nicht dabei war. „Daraufhin hat man das Ganztagsangebot ausgebaut.“ Seither bekommen die Kinder in der Schule eine warme Mahlzeit. Auf die gleiche Weise entstand vor neun Jahren das vom Verein organisierte Frühstücksangebot. Petra Mersch-Hunke erinnert sich noch an die Diskussionen im Kollegium: „Wir haben uns gefragt, ob wir den Eltern nicht zu viel Verantwortung abnehmen“, sagt die Koordinierende Erzieherin. „Am Ende haben wir uns entschlossen, dafür zu sorgen, dass die Kinder überhaupt ein Frühstück bekommen.“
„Kindbezogene Armutsprävention“, heißt das unter Fachleuten. „Es geht uns um die Kinder. Da muss man über manche Eltern hinwegsehen“, so beschreibt Rektorin Herzog das Prinzip des Kollegiums. Der Zugang zur Hilfe soll so leicht wie möglich sein. Unter anderem können Familien bei einer Sozialarbeiterin direkt an der Schule finanzielle Unterstützung aus dem Bildungs- und Teilhabepaket beantragen, etwa für Klassenfahrten oder Ferienaktivitäten. Eine Erleichterung für Menschen, die den Gang aufs Amt scheuen, weil sie schlecht deutsch sprechen oder nicht gut lesen und schreiben können. 67 Prozent der Kinder an der Grundschule Kinderhaus-West haben einen Migrationshintergrund. Gleich im Foyer steht eine Tafel mit Informationen für Mütter und Väter, die auf Sprachkurse oder Veranstaltungen des schulpsychologischen Beratungsdienstes hinweisen. Einmal die Woche wird ein Elterncafé organisiert.
Mittags halb eins durchzieht verlockender Kochdunst die Räume der Ganztagsbetreuung. Heute gibt es Spaghetti mit Tomatensoße – ein Essen, das die Küchenfrau der Schule komplett selbst gekocht hat. Eine Ausnahme, denn meist wird das Hauptgericht aus einer Großküche geliefert. Um den Nachtisch aber kümmert sich die Schule immer selbst. Auf diese Weise schafft sie es, den Preis pro Kind auf 30 Euro im Monat zu begrenzen. „Wir versuchen das Essen günstig einzukaufen und achten auch darauf, dass die Kinder bewusst mit den Lebensmitteln umgehen“, sagt Erzieherin Mersch-Hunke. „Niemand soll sich zu viel auf den Teller schaufeln, aber jeder kann bei Bedarf noch einen Nachschlag bekommen.“ So wird wenig weggeworfen – und die Kinder lernen, Lebensmittel wertzuschätzen.
ELTERN ZAHLEN NICHTS EXTRA
Bis auf die Mittagsmahlzeit ist das komplette Ganztagsangebot an der Schule kostenlos. Empfänger von Sozialleistungen können auch ihren Anteil am Essensgeld über das Bildungs- und Teilhabepaket halbieren. In anderen Bereichen achten die Pädagogen ebenfalls auf die Kosten. Für die Arbeitsgemeinschaften im Ganztag oder für Schulausflüge muss niemand extra zahlen. Andernfalls würde dies genau die Kinder ausschließen, die solche Erlebnisse am dringendsten brauchen. Ob im Bastelkurs, der Koch- und Back- AG oder beim Filzen – überall merken die Ganztagsfachleute, dass viele Schüler grundlegende Erfahrungen das erste Mal hier in der Schule machen. „Manche Kinder kommen in die 1. Klasse und können noch nicht mit Messer und Gabel essen“, berichtet Mersch-Hunke.
Um die Angebote ohne die Eltern finanzieren zu können, agiert Rektorin Herzog durchaus ideenreich. Es gibt nicht nur den üblichen Förderverein, die Schule arbeitet auch mit Sponsoren und Stiftungen zusammen. „Außerdem stehen wir in einem Verzeichnis mit Institutionen, an die Steuersünder ihre Strafen zum Nutzen des Gemeinwohls zahlen können“, erklärt Herzog in ihrer temperamentvollen Art und betont: „Bei uns muss kein Kind wegen der Kosten eines Ausflugs zu Hause bleiben.“
Die Schule versteht sich in ihrem schwierigen Umfeld auch als Sozialstation. Sie öffnet sich ihrer Umgebung, arbeitet etwa mit dem kommunalen Bürgerzentrum in der Nachbarschaft zusammen. Und sie hat ganz direkte, niedrigschwellige Hilfsangebote etabliert.
In der Bibliothek etwa gibt es nicht nur Bücherregale. An einer Wand stehen zwei große, graue Metallschränke voller gebrauchter Kleidungsstücke, mehrere Kisten mit Babysachen aus zweiter Hand und ein Regal mit neuen Kinderschuhen. Die Sachen werden der Schule teils von wohlhabenderen Eltern überlassen. Manches kommt aus einer befreundeten Kindertagesstätte oder wird von Münsteraner Schuhgeschäften gespendet. Fällt Lehrerinnen oder Erziehern auf, dass Kinder nicht der Jahreszeit gemäß gekleidet sind oder dass sie kaputte Sachen tragen, geben sie ihnen aus diesem Fundus einige passende Klamotten mit nach Hause. Ein diskreter Weg, über den die Hilfe fast immer ankommt. Nur selten wird aus Scham etwas zurückgewiesen. „Man muss es so organisieren, dass die Eltern die Unterstützung Gesicht wahrend annehmen können“, sagt Sozialarbeiter de l‘Espine.
KLEIDERHILFE AUS DER SCHULE
Längst hat sich das Hilfsangebot im Viertel herumgesprochen. Zuweilen werden die Pädagogen von der Mutter eines Schulkindes darauf angesprochen. „Manchen stehen die Tränen in den Augen, weil sie wieder schwanger sind und nicht wissen, wie sie die nötigen Dinge für das sechste oder achte Kind bezahlen können“, berichtet de l‘Espine. „Da die Frauen wissen, dass wir auch Babysachen haben, fragen sie dann bei uns nach.“
Mittlerweile hat die „Tigergruppe“ – Kinder des jahrgangsübergreifenden Lernens aus der 1. und 2. Klasse – fertig gegessen und ist in den Klassenraum zurückgekehrt. Die Lernzeit steht auf dem Programm: 45 Minuten, in denen die Hausaufgaben erledigt werden. Drei Mädchen sitzen konzentriert über ihren Arbeitsheften und lösen zügig die Aufgaben. Die anderen lassen sich immer wieder ablenken und kommen nur langsam voran. Geduldig unterstützt Erzieherin Anastasia Shved diese Kinder. „Eigentlich schaffen am Ende alle ihr Pensum“, sagt sie, während die Kinder schon zu den Arbeitsgemeinschaften losstürmen. Für viele Schüler ist das der Höhepunkt des Tages. „Ob das Sport, kreative Angebote oder Sprachkurse sind – ohne den kostenlosen Ganztag hier an der Schule könnten viele Kinder an solchen Erfahrungen nie teilhaben“, sagt Petra Mersch-Hunke.
Neben der Filzwerkstatt gibt es heute auch ein Bastelangebot. Und in der Kinderküche können Plätzchen gebacken werden. Gegen Ende der Ganztagsbetreuung um 15.30 Uhr gibt es dann noch die „Naschzeit“, in der mitgebrachte Snacks vertilgt werden können. Wer nichts dabei hat, kann sich an den frisch aufbereiteten Resten des Frühstücks bedienen. An den Reaktionen einiger Jungen und Mädchen bemerkt Erzieherin Mersch-Hunke: Das ist für einige hier die letzte Mahlzeit des Tages. Das nächste Essen bekommen diese Kinder erst am kommenden Morgen – zum Frühstück hier in der Schule.
Steckbrief
Schulform: Die Grundschule Kinderhaus-West ist eine städtische Gemeinschaftsgrundschule und gebundene Ganztagsschule in Münster. Der Ganztag beginnt morgens um 7.30 Uhr und endet um 15.30 Uhr.
Schüler: Etwa 230 Schülerinnen und Schüler besuchen die Klassen 1 bis 4.
Personal: Unterrichtet und betreut werden sie von 22 Lehrerinnen, zwei Sozialpädagoginnen, einem Sozialarbeiter und 7 Erzieherinnen.
kinderhaus-west.de/