Die dritte Klasse hatte alles wunderbar geplant: Sie würde Kinder aus der benachbarten Kita empfangen, ihnen aus ihren Lieblingsbüchern vorlesen, dazu gäbe es Kekse und Tee. Hoch motiviert schickte sie eine kleine Abordnung zum Leiter der Kindertagesstätte und lud die Kita-Kinder ein. Schöne Idee, sagte der zu den Drittklässlern, aber leider nicht möglich: In die Kita gehen viele Kinder mit einem körperlichen Handicap, die können nicht mal eben abgeholt und zur Grundschule begleitet werden. Enttäuscht überbrachten die Schulkinder diese Nachricht ihren Mitschülern. Der ganze Plan, den kleinen Nachbarn ein tolles Programm zu bieten, schien umsonst. Die Klasse setzte sich zusammen und diskutierte. Plötzlich fragte einer: Wenn die Kita-Kinder nicht zu uns kommen können, warum gehen wir dann nicht einfach mit den Büchern und Keksen zu ihnen?
„Diese Geschichte macht mich immer wieder stolz“, sagt Thorsten Bräuer, Leiter der Hamburger Grundschule Arnkielstraße. „Die Kinder haben hier einen großen Frustmoment erlebt, sind in ihrer Motivation ausgebremst worden und haben trotzdem nicht alles hingeworfen, sondern gemeinsam überlegt, wie sie ihren Plan doch noch umsetzen können.“ Ein gutes Beispiel, wie Kinder ein Vorhaben wirklich in die Hand nahmen. Der Vorlesetag war nur eines von vielen Projekten, die die Schüler im Rahmen von „Lernen durch Engagement“ (LdE) veranstalteten. Die Idee dahinter: Die Schüler setzen sich für soziale, ökologische, kulturelle oder politische Belange ein. Ihr Engagement wird im Unterricht geplant und die Erfahrungen, die sie bei ihrem Einsatz für andere Menschen und die Gesellschaft sammeln, werden reflektiert und mit Inhalten der Bildungs- und Lehrpläne verknüpft.
ERSTKLÄSSLER PLANEN WALDTAG
„Service-Learning“ heißt das im englischen Sprachraum und wird hierzulande durch die Freudenberg Stiftung mit einem bundesweiten Netzwerk unterstützt. Dass das in der Praxis bestens funktioniert, erleben Thorsten Bräuer und seine Kollegen schon seit einigen Jahren. „Zunächst hat eine erste Klasse einen Waldtag für Vorschulkinder organisiert“, berichtet der Schulleiter. Sie wollten Käfer unter die Lupe nehmen, Baumblätter sammeln und bestimmen und auf einem Waldsofa aus Ästen und Blättern gemeinsam picknicken. „Dazu mussten sie Einladungen schreiben, eine Skizze für den Weg anfertigen, den zeitlichen Ablauf planen, selbst viel über Tiere und Pflanzen wissen“, erinnert Thorsten Bräuer sich. „Damit haben sie dann sozusagen Deutsch, Mathematik und Sachkunde ganz praktisch trainiert.“
Der Waldtag war ein voller Erfolg – bei den Vorschulkindern ebenso wie bei den Schülern der Arnkielstraße. Es folgten Rollertage, Vorlesetage, Experimentiertage. Was genau „ihr“ LdE-Projekt wird, das überlegen sich die Kinder alleine. Lediglich in Klassenstufe 1 gibt die Lehrkraft Hilfestellung und schlägt ein paar Themen vor. Da werden erst einmal die Grundbedingungen geklärt: Was genau ist eigentlich ein Projekt, woran muss man alles denken und was wären Aktionen, die sich dafür eignen würden? „Spätestens in Jahrgang vier hat sich diese Methode dann verselbstständigt und muss nicht mehr von einer Lehrkraft gesteuert werden“, sagt Thorsten Bräuer.
Heute macht jede Klasse ein LdE-Projekt pro Schuljahr – wenn sie will. „Viele Ideen entstehen spontan“, berichtet der Schulleiter. Die Experimentierstunden in Sachkunde haben wirklich Spaß gemacht – wieso nicht als Projekt an Jüngere weitergeben? Oder ganz aktuell: Wie könnte man ein Projekt für Flüchtlinge gestalten? Und dann beginnt schon das soziale Lernen, muss doch, um gemeinschaftlich ein Vorhaben voranzubringen, immer wieder abgestimmt werden.
„Die Kinder erkennen gewisse Prinzipien“, erläutert Bräuer, „etwa, dass es fair wäre, eine bestimmte Kita für ein Projekt auszuwählen, weil dort noch nie eines stattgefunden hat.“
Demokratische Prozesse erleben, soziales Lernen, selbstständig werden. Die Vorteile, die die Kinder durch die LdE-Projekte haben, sind dem Hamburger Schulleiter zufolge enorm. „Die Kinder sind von Anfang bis Ende für das Projekt zuständig, sie müssen es aufsetzen, planen, den Ablauf organisieren und umsetzen“, sagt Bräuer, der darin eine Stärkung der gesamten Persönlichkeit sieht. Die Schüler übernehmen Verantwortung, trainieren ihre soziale Kompetenz und bekommen auf vielen Ebenen die Rückmeldung, dass es gut ist, sich für die Gesellschaft zu engagieren. Die LdE-Projekte erleben viele Schüler derart positiv, dass sie die Idee an ihre weiterführende Schule mitnehmen. „Sie wollen auch an der neuen Schule Verantwortung übernehmen, manche werden sogar Stufen- oder Schulsprecher“, erzählt Thorsten Bräuer. „Wenn wir von solchen Entwicklungen hören, wissen wir: Wir haben viel erreicht.“
Lernen durch Engagement
Die Freudenberg Stiftung mit Sitz in Weinheim engagiert sich bundesweit mit Partnern aus der Praxis für die Themen Migration/Integration, Jugend zwischen Schule und Beruf sowie demokratische Kultur. Ein Schlüsselprogramm der Stiftung ist Lernen durch Engagement (engl. Service-Learning). Diese Lehr- und Lernform verbindet das gesellschaftliche Engagement von Schülern mit fachlichem Lernen. Schüler und Lehrer trainieren dabei Demokratie- und Sozialkompetenz. Im Netzwerk „Service-Learning – Lernen durch Engagement“ werden von der Freudenberg Stiftung inzwischen mehr als 150 Schulen in fünfzehn Bundesländern fortgebildet und bei der Umsetzung von Lernen durch Engagement betreut.
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