Stimmengewirr liegt in der Luft, aber es kommt nicht nur von Kindern. Auf dem Flur unterhalten sich angeregt mehrere Frauen. „Wir sind nicht nur Kita, Hort und Schule für Roma-Kinder, wir sind weit mehr“, sagt die Bildungsstätten-Leiterin Sabine Ernst. „So bietet beispielsweise unser Mütter-Tisch allen Roma-Frauen täglich die Möglichkeit, sich zu treffen, auszutauschen und einander zu helfen.“
Die Schaworalle – zu Deutsch „Hallo Kinder“ – ist ein besonderes Projekt. Mehr als siebzig Kinder und Jugendliche besuchen hier die Klassen eins bis neun oder gehen in den Kindergarten. Angeleitet und betreut werden sie von zwölf Pädagogen und Erziehern, von denen vier selbst Roma sind. Grundsätzlich sind auch Nicht-Roma willkommen. Dieses Angebot werde jedoch nicht angenommen, bedauert Ernst. „Die Herausforderungen hier unterscheiden sich nicht wesentlich von denen anderer Schulen: Zu spät kommende Schüler, pubertäres Verhalten, exzessive Handynutzung oder schwierige Eltern – es ist alles dabei“, sagt die Direktorin. „Probleme, Schwierigkeiten oder Missverständnisse besprechen wir meist in direktem Kontakt vor Ort.“
KEINE HAUSAUFGABEN
Auf Hausaufgaben verzichten die Schaworalle-Lehrer: Die meisten Roma-Familien leben in sehr engen Verhältnissen, die Kinder verfügen in der Regel nicht über einen eigenen Schreibtisch. Deshalb bleiben sie täglich nach dem Unterricht noch eine Stunde in der Schule, um den Stoff zu wiederholen und zu vertiefen.
Ursprünglich war die Schaworalle als Beratungs- und Streetwork- Projekt gestartet. Träger ist der 1990 gegründete Förderverein Roma e.V. Er versteht sich als Lobby der Roma in Frankfurt und bietet rechtliche, soziale und gesundheitliche Beratung an. Außerdem unterstützt er Jugendliche ohne Abschluss sowie Erwachsene, die Hilfe bei der schulischen Qualifikation benötigen.
Als nach dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 90er-Jahre immer mehr Roma aus Rumänien nach Frankfurt kamen, häuften sich die Beschwerden beim Jugendamt. Anwohner meldeten „Klaukinder“ und „Bettelkinder“, die nicht in die Schule gingen oder in Konflikt mit den Nachbarn gerieten. Daraufhin kam der Förderverein Roma e.V. mit dem Jugendamt überein, ein kleines Projekt namens „Hilfen und Perspektiven für Minderjährige aus osteuropäischen Roma-Familien“ zu starten.
Jahre später entstand daraus die Schaworalle. Offiziell ist sie die Außenstelle zweier Schulen – einer Grundschule und einer Haupt- und Realschule – und wird damit über das Schulamt Frankfurt finanziert. Die Elternbeiträge und die Kosten für das Essen übernimmt zum größten Teil das Jugend- und Sozialamt der Stadt. Heute ist die Schaworalle eine von zwei Schulen in Deutschland für Roma und Sinti. In Köln gibt es seit 2004 mit „Amaro Kher“ ein ähnliches Projekt.
MISSTRAUEN GEGENÜBER NICHT-ROMA
Es gebe durchaus Roma-Kinder, die erfolgreich Regelschulen besuchen – aber auch sehr viele, die auf diesen scheitern, berichtet Schaworalle-Leiterin Ernst: „Viele unserer Familien hegen gegenüber Kindergärten und öffentlichen Schulen ein großes Misstrauen und zeigen dies den Pädagogen auch.“ Eine verbreitete Regel im Umgang mit Nicht-Roma sei: „Trau den Gadsche nicht.“ Vor dem Hintergrund der Geschichte hat Ernst dafür Verständnis. Jahrhundertelang hätten Roma am Rande der Gesellschaft gestanden, seien verfolgt, geächtet, ausgegrenzt und aus ihren Heimatländern vertrieben worden, sagt
Ernst und verweist auch auf die Verbrechen der Nationalsozialisten. Entsprechend tief säßen Vorbehalte, Ängste und Sorgen. „Insofern ist meine Tätigkeit in erster Linie Beziehungsarbeit“, beschreibt sie. Ernst kennt aber auch Vorurteile aufseiten der Regelschullehrer. „Ein Roma-Schüler wird allzu schnell als ‚Problemkind‘ bezeichnet und auch so behandelt“, bedauert die Schulleiterin. Einer der Hauptgründe für die Sonderstellung der Roma ist, dass sich viele in Deutschland in ihrem Denken und ihrer Kultur nicht wiederfinden. Oft unterscheiden sich die Erwartungen an institutionelle Bildung und Erziehung grundsätzlich von der Mehrheit der Deutschen. Die Großfamilie ist häufig Mittelpunkt des sozialen Lebens. Sie biete den Angehörigen Sicherheit und Schutz, erklärt Ernst: „Jeder kümmert sich um jeden.“ Dieses Gefühl stabilisiere die Kinder und Jugendlichen seelisch sehr. Die Großfamilie sei eine ökonomische Einheit, aber auch Ort von Identitätsbildung, Erziehung und Bildung. Dies mit einer Schule unter staatliche Aufsicht zu stellen, werde von Roma oft als erzieherische Schwäche der Eltern gedeutet und als Verlust der Gemeinschaftswerte empfunden.
Wie die meisten Eltern wünschen sich auch viele Roma, dass die Schule ihren Kindern elementares Wissen und Kompetenzen vermittelt, um im Leben zurechtzukommen. „Überleben und Geld verdienen stehen im Vordergrund“, sagt Sabine Ernst – und fügt hinzu, dass dies hinsichtlich des Wertes von Schulbildung durchaus problematisch sei. Hinzu kämen die klassischen Geschlechterrollen. Jungen Männern kommt oft die Funktion des Ernährers zu. Selbstständigkeit steht bei ihnen höher im Kurs als eine Anstellung. Die Mädchen werden teils schon im Alter von 17 oder 18 Jahren verheiratet, leben dann in der Familie des Mannes und gehen häuslichen Arbeiten nach.
SCHUTZ- UND EMANZIPATIONSRAUM
Schulleiterin Ernst will dem Roma-Nachwuchs mit der Schaworalle einen Schutz- und Emanzipationsraum bieten. Hier sollen die Jüngsten Kind sein und Bildung fern von Zwängen erfahren können. „Wichtige pädagogische Ziele für meine Mitarbeiter und mich sind: den Kindern und Jugendlichen gute Erlebnisse zu verschaffen, ein breites Spektrum an Förder- und Freizeitangeboten zu bieten sowie eine grundlegende Allgemeinbildung zu vermitteln und damit eine Tür in die Mehrheitsgesellschaft zu öffnen. Darüber hinaus ist es uns ein Anliegen, die breite Öffentlichkeit über die Lebensweise der Roma zu informieren.“
Als größte Auszeichnung für ihre langjährige und unermüdliche Arbeit empfindet Ernst das Vertrauen der Roma. Das zeigt sich darin, dass Kinder, mit denen sie ihre Arbeit einst begann, nun den eigenen Nachwuchs in die Kita bringen. „Ich fühle mich wie die Oma im Haus, die stolz auf ihre Kinderschar ist“, resümiert die Schulleiterin. „Ich mache meine Arbeit noch immer gerne, weil sich stets etwas weiterentwickelt.“
Infos
Die Schaworalle befindet sich in der Stoltzestraße 14 –16 in der Innenstadt von Frankfurt am Main.
Sie ist täglich von 8.15 bis 17.45 Uhr geöffnet. Der Unterricht erfolgt in der Zeit von 9 bis 14.30 Uhr in vier 60- bis 75-minütigen Einheiten.
In der Schaworalle ist auch der Hort untergebracht. Hier gibt es Räume, in denen die Kinder basteln, spielen und sich bewegen können.
Es gibt eine Klasse für die Schulanfänger, danach werden die Kinder jahrgangsübergreifend in kleinen Lerngruppen (Grundschulgruppe, Mittelstufe, Hauptstufe) bis zu maximal 15 Schülern und Schülerinnen unterrichtet.
www.schaworalle.de