Nicht so laut bitte – und nicht rennen!“ Sozialpädagogin Andrea Vollmer muss die Erstklässler an der 44. Grundschule in Dresden-Tolkewitz bremsen, als die nach Unterrichtsschluss durch das ehrwürdige Schulgebäude aus der Gründerzeit stürmen. Noch läuft der Unterricht in den höheren Klassen, deshalb soll Ruhe auf den hohen Fluren herrschen. Eigentlich aber wollen Vollmer und ihre elf Kolleginnen und Kollegen die Kinder in der Nachmittagsbetreuung nicht bremsen – der Hort arbeitet nach dem Modell der Offenen Arbeit.
Was das heißt, lässt sich täglich ab dem Mittagessen beobachten. Die Erzieherinnen und Erzieher bieten den Rahmen für bestimmte Beschäftigungsmöglichkeiten. Kurse mit vorgegebenen Inhalten gibt es nicht. Freies und kreatives Spielen steht im Mittelpunkt. „Wir verstehen uns ganz bewusst als Freizeiteinrichtung“, erklärt Vollmer, eine freundlichresolute Frau mit lebhaften Augen. „Vormittags im Unterricht bekommen die Schülerinnen und Schüler schon genügend Vorgaben, das brauchen die nicht auch noch am Nachmittag.“ Diese Freiheit macht auch vor dem Mittagessen nicht Halt. Jedes Kind darf selbst entscheiden, wann zwischen 11.30 und 14 Uhr es in den Speisesaal im Keller hinabsteigen will.
SELBSTBESTIMMUNG UND SELBSTSTÄNDIGKEIT
An diesem heißen Sommertag rennen fast alle Kinder erst einmal auf den weitläufigen Schulhof. Allen Geschlechterdebatten der vergangenen Jahre zum Trotz tummeln sich ganz hinten auf dem von hohen Bäumen beschatteten Fußballplatz vor allem Jungs aller Altersgruppen. Gleich hinter dem Schulhaus sind es dagegen vor allem Mädchen der dritten und vierten Klassen, die nach Musik der „Bibi und Tina“-Filme kichernd erste Hip-Hop-Moves üben. Auch sonst gibt es viel Platz zum Klettern und Rutschen auf dem Spielplatz, zum Buddeln in der großen Sandgrube oder für wilde Jagden auf diversen pedalgetriebenen Fahrzeugen. Selbst das Erklimmen der alten Buchen neben der Turnhalle ist erlaubt, wenn bestimmte Regeln eingehalten werden: Mehr als zwei Kinder auf einem Baum sind tabu, ab und zu müssen sich die Kletterer abwechseln. „Man kann den Schülern ganz viel zutrauen. Die schaffen viel mehr, als wir Erwachsenen oft denken“, lautet Vollmers Erfahrung.
Fast alle der 275 Erst- bis Viertklässler verbringen auch den Nachmittag in der offenen Ganztagsschule. Geöffnet ist an jedem Wochentag zwischen 6.15 und 17.45 Uhr. Die Einteilung nach Klassen spielt in der Hortzeit keine Rolle mehr. Stattdessen können sich die Kinder frei auf dem Schulgelände bewegen. Wer nicht draußen toben will, kann in einem der Themenzimmer auf Beschäftigungssuche gehen. Allerdings herrscht an diesem sonnigen Sommertag weder im Bastel- noch im Bau- oder im Legozimmer großer Andrang. „Selbstständigkeit und Selbstbestimmung werden bei uns großgeschrieben“, betont Vollmer. Deshalb verpflichtet der Hort die Kinder auch nicht zum Erledigen der Hausaufgaben. Dafür stehen zwar ebenfalls ein Raum und ein Erzieher bereit. Aber wer will, darf sich auch erst zu Hause seinen Aufgaben widmen.
KONFLIKTE MIT DER GRUNDSCHULE
Unter anderem deshalb bleiben Konflikte mit den Lehrern nicht aus. Der Hort im Schulgebäude wird vom freien Träger „Independent Living Dresden“ betrieben. Die staatliche Grundschule aber pflegt noch den traditionellen Frontalunterricht. „Die Lehrer finden zum Beispiel unmöglich, dass wir den Kindern das Klettern in den Bäumen erlauben“, berichtet Vollmer. Auch die für die Hortbetreuung aus Platzmangel genutzten Klassenräume werden täglich mittags nach dem Konzept der Offenen Arbeit freigeräumt, am Abend rücken die Erzieher die Tische für den nächsten Tag wieder in die typische Unterrichts-Reihung. Entstandene Bauwerke müssen die Kinder wieder einreißen – Lehrer fürchten Ablenkung während des Unterrichts. Während einige Lehrer den Hort als regelfreie Zone missverstehen, beklagt mancher Erzieher mangelnde Wertschätzung für den Hort.
„Wir gehen Konflikten nicht aus dem Weg“, beschreibt Andrea Vollmer die Strategie der Pädagogen im Umgang miteinander. „Aber wir reiben uns auch nicht auf nur aus Prinzip. Wir suchen pragmatische Regelungen, ohne dabei unser Konzept aus den Augen zu verlieren.“ Allerdings ist ihr der Ärger darüber anzusehen, dass die Schule mittlerweile selbst einige Ganztagsangebote bei externen Veranstaltern bestellt hat – in Konkurrenz zum Hort und in Form von Kursen. „Wir unterstützen das nicht, denn das passt nicht in unser Konzept“, sagt die Sozialpädagogin dazu knapp.
Wie in jeder Betreuungseinrichtung beklagen sich zuweilen auch Eltern in Dresden, weil sie nachmittägliche Kurse vermissen. Die Schule liegt in einer gutbürgerlichen Gegend, manchen Familien kann es da nicht genug Unterricht geben. Die Hort-Pädagogen gehen offen mit solcher Kritik um. „Bei uns lernen die Kinder Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein“, erklärt Vollmer besorgten Eltern. Oft können sich Väter und Mütter schon deshalb mit der Offenen Arbeit arrangieren, weil ihre Kinder sich im Hort wohlfühlen.
KINDER STIMMEN ÜBER NEUES SPIELZEUG AB
Die Mitbestimmung der Kinder geht allerdings über die Auswahl der Freizeitangebote hinaus. Vor zwei Jahren hat die Einrichtung eine Hort-Verfassung nach dem Modell des Instituts für Partizipation und Bildung eingeführt. Das mehrere Seiten dicke Papier regelt sowohl die Rechte der Kinder wie auch Fragen des Hort-Alltags. „Wir wollen auch ein Stück Demokratie-Unterricht geben“, sagt Hortleiterin Annelie Krause. Allerdings sind auch einige Vetorechte der Erzieher festgeschrieben: Wenn es um Fragen der Gesundheit oder der Aufsichtspflicht geht, haben die Erwachsenen das letzte Wort. Damit zum Beispiel im Herbst nicht alle Kinder nur im T-Shirt im Freien unterwegs sind – oder im Sommer alle nackt.
Seit die Verfassung gilt, wählen alle Schüler einmal im Jahr zwei Vertreter pro Klasse in einen hortweiten Kinderrat. Der berät monatlich anstehende Fragen mit der Hortleitung. In diesem Jahr hat Hortleiterin Krause dem Schülergremium sogar ein Stück Budget-Verantwortung abgetreten: Die Kinder stimmten darüber ab, in welches Spielzeug die dafür vorgesehenen 600 Euro investiert werden sollten. Seither steht auf dem Hof unter anderem ein viel genutztes Trampolin.
„Die Kinder sollen lernen, dass ihre Stimme gehört wird, wenn sie sich einbringen“, beschreibt Krause diesen demokratischen Ansatz. Deshalb wird auch in jeder Klasse regelmäßig eine Kinderkonferenz einberufen. Die dort beschlossenen Wünsche und Forderungen werden von den Mitgliedern des Kinderrates dann bei der Hortleitung vorgebracht. In den ersten Klassen klappt das freilich nur unter Anleitung. „Aber“, sagt Krause, „manche vierte Klasse organisiert ihre Konferenz schon ohne Beteiligung der Erzieher.“