"Warum muss ich in die Schule gehen? Kann nicht immer Wochenende sein?“ Es ist Sonntagabend und mein Sohn hat mal wieder den Blues. Hinter uns liegen zwei Tage, die sich wie Hängematte am Strand angefühlt haben. Nun wirft dieser steinige Berg namens Alltag wieder seinen Schatten voraus. „Umziehen, Zähne putzen“, mahne ich, „und ist die Schultasche fertig gepackt?“ Ich weiß ja, dass mein Sohn es hasst, wenn Hektik und Verpflichtungen unseren Tagesablauf bestimmen. Wie süß ist dagegen die freie Zeit. Da kann man im Schlafanzug auf der Couch rumhängen. Man kann lesen oder was bauen oder Freunde treffen oder mit der großen Schwester „chillen“. Für meinen Jüngsten ist das der erstrebenswerteste Zustand überhaupt. Dazu jeden Mittag Pfannkuchen.
Also, warum Schule?
TOLLKÜHNE SZENARIEN
Meistens ignoriere ich diese wiederkehrende Frage beziehungsweise speise meine Kinder mit Totschlagargumenten ab. So auch diesmal. „Ganz einfach: Weil in Deutschland Schulpflicht herrscht. Weil Mama und Papa arbeiten müssen.“ Und Arbeit, das weiß mein Jüngster längst, heißt Geld, heißt Essen, heißt Klamotten, heißt Wohnung, heißt Urlaub. Aber es gibt keine Kausalketten, an die ein Neunjähriger nicht die Brechstange anzulegen versucht. Entsprechend einfallsreich ist seine Replik: „Wenn ich Erfinder wäre, würde ich eine Welt ohne Geld erfinden.“ Dann skizziert er seine Idee: Wenn alles ohne Geld funktioniert, müssten Eltern nie ins Büro oder in die Werkstatt gehen. Jeder Mensch könnte in einem schönen, großen Haus leben. Die Familie bliebe tagein, tagaus beisammen.
Jetzt hat er mich am Haken. Ich frage provozierend zurück: „Und wer baut das große Haus?“ Plötzlich sind Zahnbürste und Schulranzen vergessen und wir entwerfen tollkühne Gesellschaftsszenarien.
KEINE HOHLEN PHRASEN
Ich habe vorher nie darüber nachgedacht, aber möglicherweise unterfordert man Grundschüler, wenn man sie mit hohlen Phrasen über das Leben abspeist. Du musst in den Hort, weil ich arbeiten muss. Flüchtig betrachtet stimmt der Satz. Aber wer hat sich das ausgedacht, und warum müssen wir uns daran halten? Kratzt man nur ein klein wenig an der Oberfläche, kommt auf einmal eine ganze Schlucht voller philosophischer Fragen und Gedanken zum Vorschein.
Beispielsweise wäre da die Debatte über das Grundeinkommen. Sollte ein reiches Land jedem Kind und jedem Erwachsenen einen festen monatlichen Betrag überweisen, sodass man davon (zumindest bescheiden) leben könnte? Und was würde das mit uns machen? Bräche das öffentliche Leben zusammen? Würden wir alle zu phlegmatischen Zombies mutieren? Oder wären wir über Nacht plötzlich ein Volk der Hobby-Fußballer und Hobby-Schriftsteller? Und wie verhält es sich mit der fortschreitenden Automatisierung in der industriellen Fertigung? In Grundschuldeutsch übersetzt: Was ist, wenn sowieso bald die Roboter die meiste Arbeit machen? Wäre das gut oder schlecht?
Unsere Köpfe rauchen schon, als wir am Ende unseres Gesprächs noch bei einem ganz anderen Aspekt des Themas landen. „Abgesehen vom frühen Aufstehen gehe ich eigentlich ganz gerne zur Arbeit“, gebe ich zu. Dann überlegen wir gemeinsam, was uns alles gefällt an unserem Alltag: Dass man seine Freunde (oder: Kollegen) trifft. Dass man manchmal vorher keine Lust hat, aber hinterher war es richtig toll. Dass es sich gut anfühlt, wenn man etwas Anstrengendes geschafft hat. Kurzum: dass man ohne Schule oder ohne Arbeit vielleicht auf Dauer auch nicht glücklich wäre.